Nach Verdun. Jan Eik

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Nach Verdun - Jan Eik

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Kappe und Galgenberg dort eintraten und frohgemut nach Ernst Bergmann fragten, schlug ihnen dieselbe eisige Ablehnung entgegen wie schon bei Alfred Stiller. Ein Anwaltsgehilfe gab ihnen einen höhnischen Rat mit auf den Weg: «Kommen Sie doch am 1. Mai auf den Potsdamer Platz, da finden Sie ihn ganz bestimmt.»

      Galgenberg lüftete seinen Hut. «Danke sehr, der Herr, machen wir.»

      Der 1. Mai fiel im Jahre 1916 auf einen Montag, und Kappe nutzte den Sonntag davor, um auf andere Gedanken zu kommen. Das gelang ihm am besten, wenn er Fußball spielte. Schon lange war er ja Mitglied bei Viktoria 89. Vor dem Krieg hatte es bei ihm nie zur ersten Mannschaft gereicht, dazu erschien er den Übungsleitern doch zu ungelenk und schläfrig, aber nun, da die besten Kicker alle im Felde standen, war man froh, mit ihm die Mannschaft auffüllen zu können, und stellte ihn auf. Wenn auch nur als Linksaußen, weil er dort am wenigsten Schaden anrichten konnte.

      Auf dem «Gelände an der einsamen Pappel» an der Schönholzer Allee, einem ehemaligen Exerzierplatz und darum im Volksmund «Exer» genannt, ging es gegen Alemannia 90, im selben Jahr wie Viktoria als «Jugendlust» gegründet.

      Es dauerte eine Weile, bis sie herausbekamen, auf welchem der vielen Plätze sie heute spielen sollten. Als sie es erfahren hatten, bemerkten sie, dass im Vorspiel die Latte zerbrochen war. Nach einigen Mühen war aber ein Zimmermann gefunden, der das gute Stück reparierte.

      Die beiden Mannschaften nahmen Aufstellung. Vor dem Torwart gab es den rechten und den linken Verteidiger, dann kamen die Läufer: rechter Läufer, Mittelläufer und linker Läufer, vor ihnen die Stürmer: der Halbrechte und der Halblinke sowie Rechtsaußen, Mittelstürmer und Linksaußen. Das größte Prestige hatten der Mittelläufer und der Mittelstürmer sowie der Spielmacher auf halbrechts oder halblinks, immer balltechnisch beschlagen und mit dem strategischen Überblick eines Feldherrn.

      Anpfiff. Als der ertönte, musste Kappe unwillkürlich an Galgenberg denken, der sofort gerufen hätte: «Nicht doch, Anpfiffe kriege ick schon im Dienst jenuch!»

      Es war schwer, einmal abzuschalten. Schon gar nicht gelang ihm dies, als ihr Mittelstürmer einen gewaltigen Schuss aufs Tor abgefeuert hatte.

      «Mann, war det ’ne Granate!», rief einer der Zuschauer. Kappe zuckte zusammen, denn er hatte sofort wieder ihren Misserfolg bei der Ergreifung des Handgranatenmörders vor Augen.

      Noch mehr erschrak er aber, als er Klara unter den Zuschauern erblickte. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Sie trat an die Barriere und winkte ihn heran. Er ließ sich Zeit.

      Neben ihm schrie ihr Halblinker auf. Er hatte einen Schuss in den Unterleib abbekommen und wand sich am Boden.

      «Mach hier nicht den sterbenden Schwan!», kam es von den Rängen. «Wir sind nich vor Verdun!»

      «Mann, hab da nich so!», schrie ein anderer. «Det war nur ’n Ball und keen Schrapnell!»

      Ein Dritter gab sich als Sanitäter. «Reib dir den Sack, aber kräftig - und gleich pinkeln gehen, sonst kriegste keene Kinda mehr.» Kappe nutzte die Spielunterbrechung, um zu Klara zu gehen und sie mit einem kurzen Kuss auf die Wange zu begrüßen.

      «Das ist ja lieb von dir, dass du dich mal sehen lässt, wenn ich spiele …»

      «Wir müssen nachher unbedingt noch über unsere Hochzeit reden.»

      Kappe überlegte lange, wie er dem entgehen konnte. Eine Gelegenheit dazu bot sich erst kurz vor dem Halbzeitpfiff. Da stieg er zu einem Kopfball hoch und stieß dabei so unglücklich mit einem Gegenspieler zusammen, dass seine Augenbraue aufplatzte. Das war nicht schlimm, er blutete aber, so sollte es der Schiedsrichter später im Spielbericht vermerken, wie ein angestochenes Schwein und musste ins Krankenhaus, um genäht zu werden.

      Als das erledigt war, sah er den Arzt so treuherzig an, wie er eben konnte. «Ob Sie meiner Braut nicht sagen können, ich hätte eine Gehirnerschütterung und müsste noch zur Beobachtung hierbleiben? Sie möge aber bitte schon nach Hause gehen.»

      «Muss Liebe schön sein», murmelte der Doktor und tat ihm den Gefallen.

      Am nächsten Nachmittag war alles vergessen, nur ein dickes Pflaster klebte noch auf seiner rechten Augenbraue. Kappe hatte sich mit Theodor Trampe in der Waldemarstraße vor der Haustür getroffen, um mit ihm zur großen Maikundgebung auf dem Potsdamer Platz zu fahren. Galgenberg stieß am Kottbusser Tor zu ihnen.

      «Wohl dem, der eine Gehirnerschütterung hat», sagte Galgenberg, als er von Kappes Malheur erfuhr. «Weeß man wenichstens, det da wat is, wat erschüttert werden kann. Bei manch eenem Zeitjenossen wär ick mir da nich so sicher.»

      Während Trampe rein privat zum Potsdamer Platz fuhr, um Karl Liebknecht zu lauschen, waren Kappe und Galgenberg dienstlich unterwegs, wobei Kappe gern das Private mit dem Nützlichen verband, Galgenberg hingegen linke Sozis wie Karl Liebknecht nicht ausstehen konnte.

      «Klar, die Welt muss vabessert werden, aba nich von Knallköppen, wie der eena is.»

      «Na, hören Sie mal!», rief Trampe.

      «Nee, kann ick nicht», entgegnete Galgenberg. «Ick bin ja schließlich nich mein Nachbar.»

      «Was hat denn das mit Ihrem Nachbarn zu tun?», wollte Trampe wissen.

      «Na, der heißt Völker und hört immer die Signale - die, von denen Sie imma singen.»

      Theodor Trampe unterließ es, den Agitator zu spielen. Einem Mann wie Galgenberg konnte man nicht böse sein. Ohne Gemütsathleten wie ihn wäre das Leben kaum zu ertragen gewesen.

      Obwohl Kappe eng mit Trampe befreundet war, hatte er ihm nicht verraten, was sein eigentlicher Grund war, zum Potsdamer Platz zu fahren, denn dass er darauf aus war, Ernst Bergmann zu verhaften, hätte Trampe gar nicht gefallen. Kappe konnte sich nicht entscheiden, was er hoffen sollte: dass sie Bergmann trafen oder dass sie Bergmann nicht trafen.

      Wie er aussah, wussten er und Galgenberg ziemlich genau, denn bei der Politischen Polizei gab es ein paar Photos von ihm. Und da hatte die Röddelin gar nicht mal so unrecht, denn Bergmann sah wirklich aus wie ein Neandertaler. Aber dass ihnen dieser Neandertaler bei einer Massenkundgebung in die Arme lief, war praktisch ausgeschlossen, es sei denn, man vertraute Galgenbergs Welterkenntnis Nummer eins, die da lautete: «Haste Glück, machste dick.»

      «Janz schön wat los hier», sagte Galgenberg, als sie am Potsdamer Platz aus der U-Bahn stiegen. «Wenn die mir alle ’ne Mark schenken würden, hätte ick für den Rest meines Lebens ausjesorgt.» Alles drängte in Richtung Rednertribüne. Man lief Ellenbogen an Ellenbogen, und teilweise war die Drängelei so groß wie auf dem Bahnsteig Alexanderplatz beim Entern eines gerade eingefahrenen Stadtbahnzuges. Unter den Arbeitern bemerkte Kappe auffällig viele Frauen und Jugendliche. Die ersten Scharmützel mit der Polizei ließen nicht lange auf sich warten. Einige Arbeiter hatten unten an ihren Spazierstöcken Nadeln angebracht, und pikte man mit denen in die breiten Hinterteile der Polizeipferde, bäumten die sich auf, gingen durch und verhinderten so eine befohlene Attacke.

      Als es einer ausprobierte, ließ der Effekt nicht lange auf sich warten: Die Blauen und ihre Offiziere wurden nervös und fingen an, die Masse mit Fäusten hin und her zu stoßen.

      Kappe hatte Mühe, nicht in Panik zu verfallen. Hier zerquetscht zu werden war auch kein schöner Tod. Wäre er doch bloß Wachtmeister in Wendisch Rietz und Storkow geblieben! Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, ausgerechnet hier nach dem Handgranatenmörder zu suchen?

      Sie

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