Die Stunde der Patinnen. Mathilde Schwabeneder-Hain
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Unter dem Eindruck der Not der Menschen und ihrer Unterdrückung durch die allgegenwärtige Cosa Nostra gründete Dolci 1958 in Partinico ein Forschungsinstitut zur Entwicklung von Arbeitsplätzen, das Centro Studi e Iniziative per la piena Occupazione. Revolution, das heißt, jedem Einzelnen Verantwortung geben, war eines von Dolcis Leitmotiven. Nur so, war er überzeugt, können die Verbindungen von Politik und Mafia gekappt werden. Internationales Aufsehen hatte der „Gandhi Siziliens“ bereits zwei Jahre zuvor erregt. Sein „Umgedrehter Streik von Partinico“, "lo sciopero alla rovescia", wurde von vielen Medien aufgenommen, aber auch kontrovers diskutiert. Dolci legte den Finger auf eine offene soziale Wunde und ein bis dahin weitgehend ignoriertes Problem: Bezahlte Arbeit gab es in der meist bitterarmen und vom organisierten Verbrechen dominierten Region so gut wie keine.
Die Grundidee war die: Wenn ein Arbeiter, um zu protestieren, streikt, dann muss ein Arbeitsloser, der sein Recht auf Arbeit einfordern will, arbeiten. Gemeinsam mit hunderten Arbeitslosen begann Dolci eine völlig kaputte, für die lokale Infrastruktur jedoch unverzichtbare Landstraße zu reparieren. Die Polizei schritt ein und löste die Aktion prompt auf. Dolci wurde wegen subversiver Tätigkeit verhaftet und vor Gericht gestellt. Ein Jahr nach dem Prozess, der mit einem Freispruch endete, erhielt er den Lenin-Friedenspreis. Mit dem Preisgeld finanzierte Dolci sein Institut, das die „Selbstanalyse des Volkes“ fördern und letztlich zum Ende der Mafia beitragen sollte.
Als Giusy Vitale geboren wird, gehört der Westen Siziliens nach wie vor zu den am schlechtesten entwickelten Gebieten Europas. Der Staudamm war zwar errichtet worden, doch die gesellschaftspolitischen Ideen Danilo Dolcis sind nie umgesetzt worden. Und die von Sciascia exzellent beschriebene Omertà ist omnipräsent. Partinico ist weiter eine unbezwingbare Mafia-Hochburg.
Gesprochen wird zuhause wenig, erzählt Giusy Vitale nach ihrer Verhaftung. Geschlagen hingegen viel. Ihre Brüder setzen selbst innerhalb der Familie auf brachiale Gewalt und die Überzeugungskraft ihrer Fäuste. Sie bestimmen, was zu tun oder zu lassen ist. Widerrede ist zwecklos und bringt meist gebrochene Knochen sowie blaue Flecken. Es ist eine archaische Welt mit ungeschriebenen, menschenverachtenden Regeln, in der Giusy aufwächst. Für Bildung und Schule ist da wenig Platz. Erst recht nicht, wenn es sich um ein Mädchen handelt. Mehr als der Pflichtschulabschluss ist für sie nicht vorgesehen, obwohl sie, wie sie selbst sagt, „recht gut und auch fleißig war“. Giusys Lieblingsfächer Rechnen und Sport werden bald durch andere Interessen ersetzt. Mit 14 Jahren bleibt sie zuhause, hilft der Mutter und geht mit dem Vater auf die Felder.
Die Eltern Vitale sind – wie die meisten in und um Partinico – Bauern. Der Vater bestellt den Boden und versorgt die Kühe, seine große Liebe gehört jedoch den Pferden. Ein Pferd ist in Sizilien mehr als nur ein edles Tier. Es ist ein stolzes Symbol und untrennbar mit der Figur der gabellotti verbunden: Pächter, die die Latifundien der Barone betreuten. Sie galten als Bindeglieder zwischen dem Adel und den einfachen Bauern und hatten im Laufe der Zeit Polizeiaufgaben und Gerichtsbarkeit übernommen. In den meisten Fällen waren die gabellotti aber auch die Mafiosi des jeweiligen Ortes. Hoch zu Ross und mit einem Gewehr über der Schulter haben sie bis in die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts ihre Herrschaft im immer noch feudal geprägten Sizilien ausgeübt.
Auch Giusy liebt Pferde. Schon als Kind lernt sie reiten und sie gibt diese Leidenschaft nicht einmal dann auf, als sie hochschwanger ist. Aber Giusy liebt auch Waffen. Gewehre und Pistolen gehören zum Inventar der Familie Vitale und so lernt sie bereits in jungen Jahren „mit Waffen umzugehen“. Während andere Mädchen ihres Alters mit Puppen spielen und von einem Märchenprinzen träumen, ergründet Giusy die Unterschiede zwischen Revolvern, Pistolen und halbautomatischen Handfeuerwaffen. Sie ist fasziniert von den Details und besonders angetan von der Lieblingswaffe ihres Bruders Vito, die so klein ist, dass sie leicht versteckt werden kann. Später wird auch sie „das rauschartige Vergnügen verspüren, wenn man bewaffnet umhergeht“.
Auf die Frage des Richters, wann sie begriffen habe, dass ihre Brüder für die Mafia arbeiten, sagt die Angeklagte Giusy Vitale: „Mit rund achtzehn Jahren oder wahrscheinlich schon etwas früher.“ In dieser Zeit wird ihr auch bewusst, dass ursprünglich eine andere Familie den Ort beherrscht hat – die Familie Geraci – und dass ihre Brüder darum kämpfen, diese zu verdrängen. Je härter der Kampf um die Herrschaft wird, desto brutaler und skrupelloser werden ihre Geschwister, die nie ein wirkliches Interesse an einer Tätigkeit in der Landwirtschaft gezeigt haben. Doch Giusy ist trotz der gewalttätigen Ausbrüche ihrer Brüder immer in ihrer Nähe und immer zu ihren Diensten. Lange Zeit versteht sie nicht, was tatsächlich vorgeht. Aber auch als sie die Zusammenhänge zu begreifen beginnt, ist sie stets überzeugt, dass ihre Familie ein Opfer der Justiz ist.
Stolz und Ehrfurcht erfüllen sie, als ihr ältester Bruder Leonardo, das tatsächliche Familienoberhaupt der Vitale, zum Boss von Partinico aufsteigt. Ab diesem Zeitpunkt vertritt Leonardo nicht mehr nur die eigene Familie, sondern auch die Mafia-Familie. Als neuer lokaler Regent agiert er jedoch nicht allein, sondern ist einem der berüchtigtsten Mafiosi aller Zeiten unterstellt: Totò Riina. Die Vitale sind ab nun Teil der kriminellen Oberliga Siziliens.
Im Banne der Corleoneser
Salvatore Riina, meist Totò oder wegen seiner Körpergröße von 158 cm auch „U Curtu“, „der Kurze“, genannt, stammt aus dem Bergstädtchen Corleone, einst einer der gefährlichsten Orte Italiens und in der Nähe des sogenannten sizilianischen Todesdreiecks Bagheria, Altavilla und Casteldaccia gelegen. Die Gegend wies in den 1950er-Jahren eine der höchsten Mordraten der Welt auf. Allein von 1943 – 1961 wurden in Corleone 52 Morde verübt und zwei Dutzend Mordversuche registriert. Viele Menschen verschwanden außerdem spurlos.
1963 wurde im Todesdreieck ein grausiger Fund gemacht. In einem Felsloch entdeckten Carabinieri die Überreste Dutzender Leichen. Untersuchungen ergaben, dass es sich um Opfer von Verbrechen handelte. Die Stätte erhielt den Namen „Friedhof der Mafia“. Hier wuchs der Bauernsohn Salvatore Riina auf und hier beging er bereits als Jugendlicher seinen ersten Mord. Sein Weg war vorgezeichnet.
In den 1960ern wurde Sizilien vom Ersten Mafia-Krieg erschüttert. Der brutale Kampf um Macht und Einfluss in der Cosa Nostra forderte viele Menschenleben. Riina war als rechte Hand des damaligen Bosses Luciano Liggio einer der Hauptakteure dieser blutigen Fehde. Innerhalb kürzester Zeit machte der 1930 geborene Corleoneser eine Verbrecherkarriere, die ihresgleichen sucht. Er mordete ohne Skrupel.
Viel zitiert ist heute sein Ausspruch: „Wenn du jemanden erschießt, dauert das eine Sekunde, wenn du einen Raub begehst, dann brauchst du dafür mehr Zeit.“ „La belva“, die Bestie, nennen ihn daher später die italienischen Medien.
Bis zu seiner Verhaftung 1993 war Riina fast zweieinhalb Jahrzehnte flüchtig. Sein Leben im Untergrund hatte ihn jedoch nicht daran gehindert, die Führung der Corleoneser Familie zu übernehmen. Im Gegenteil. Riina siegte auf allen Linien. Doch der gnadenlose Boss wollte mehr. Er strebte die Vorherrschaft in der gesamten Cosa Nostra an. Es waren goldene Zeiten für die Mafia. Die Verbrecherorganisation war groß in den Drogenhandel eingestiegen und sie machte höchst lukrative Geschäfte im florierenden Bauwesen. Der Kuchen sollte daher umverteilt und die Karten neu gemischt werden.
So kam es 1981 zur mattanza, zum Zweiten Mafia-Krieg. Die zwei Jahre andauernde Fehde erwies sich als noch brutaler und noch blutiger als die erste. Rund 1000 Menschen wurden auf oft bestialische Art und Weise getötet, ganze Clans vernichtet und selbst unschuldige Verwandte ermordet. Jede nur mögliche Rache sollte von vornherein im Keim erstickt werden. Wie in einem Vernichtungsfeldzug löschten die Corleoneser die gegnerischen Familien aus. Am Ende siegte die Corleone-Fraktion mit ihren Untergruppen und sicherte sich die Vorherrschaft in Sizilien. „Sie ist stärker, vereinter, hierarchischer und undurchsichtiger denn je“ aus diesem Krieg hervorgegangen, stellte Italiens berühmtester Anti-Mafia-Richter,