Die Stunde der Patinnen. Mathilde Schwabeneder-Hain
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Am 25. Juni 1998 wird Giusy Vitale verhaftet. Wie besessen von ihrer Machtfülle, hat sie diese Möglichkeit gar nicht in Betracht gezogen. Als sie mit den vielen verschiedenen Abhörprotokollen konfrontiert wird, ist sie überrascht über die eigene Unvorsichtigkeit. Zu wenig verschlüsselt waren die Aussagen, zu eindeutig das aufgezeichnete Beweismaterial. Die langjährigen Ermittlungen der Polizei zeigen, dass Giusy schon bald eine außergewöhnliche Rolle innehatte, dass sie Mitwisserin vieler, auch blutiger Geheimnisse war und Kontakte zu anderen Mafia-Familien hielt. Giusy war eine Frau, die Befehle auszuführen wusste und Befehle geben konnte. Sie war Teil des berüchtigten Corleoneser Clans um Totò Riina und damit Teil eines der dunkelsten Kapitel der neueren italienischen Geschichte.
Giusy wird wegen Mafia-Zugehörigkeit zu sechs Jahren Haft verurteilt, die später auf viereinhalb Jahre reduziert werden. Doch bereits 2003 wird sie erneut verhaftet und angeklagt. Diesmal muss sie sich wegen des Mordes an „Mortadella“ verantworten. Die junge Frau, die ihre Haft absaß, ohne jemals Zeichen der „Schwäche“ zu zeigen, bekommt erstmals Angst, lebenslang hinter Gittern zu bleiben und ihre Kinder nie mehr wiederzusehen. Im Februar 2005, sieben Jahre nach ihrer ersten Verhaftung, beschließt Giusy Vitale nach langem inneren Kampf, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Als erste Patin packt sie aus und erzählt aus ihrem Leben als Mafiosa. Sie gibt Einblick in die sonst verschlossene Welt der Bosse, deckt Verbindungen zu Politik und Wirtschaft auf, klagt eine nur allzu nachsichtige, weil korrupte Verwaltung an. Giusy löst mit ihren Aussagen, die tausende Seiten füllen, ein regelrechtes Erdbeben aus. Mit derselben Radikalität, mit der sie sich vorher in den Dienst der Mafia gestellt hat, tritt sie nun gegen das organisierte Verbrechen und ihre eigene Familie auf. Die Reaktion der Brüder lässt nicht auf sich warten. Während einer Verhandlung am Schwurgericht in Palermo wird Leonardo Vitale, der sich in einem Gefängnis in Parma befindet, zugeschaltet. Von dort richtet er den Bannstrahl gegen die abtrünnige Schwester: „Ich habe gehört, eine Ex-Blutsverwandte von mir arbeitet jetzt mit der Polizei zusammen. Wir sagen uns von ihr los, ob lebendig oder tot, was sie hoffentlich bald sein wird … Sie ist ein giftiges Insekt!“
Doch Giusy lässt sich nicht beirren. Sie geht ihren eingeschlagenen Weg weiter und bricht weiter Tabus. Diesmal auf der anderen Seite. Der richtigen, wie sie jetzt sagt. Wie eine sprudelnde Quelle gibt sie immer mehr Details preis. Sie erzählt von der Verlogenheit der „Ehrenwerten Gesellschaft“, ihrer Scheinheiligkeit und den nur nach außen gelebten familiären Werten. Sie spricht von den Abenteuern ihres verheirateten Bruders und von ihren eigenen Liebhabern, mit denen sie ihren Mann betrogen hat. Vom geringen Wert des menschlichen Lebens, wenn man auf der falschen Seite steht. Es ist ein Befreiungsschlag, den Giusy Vitale versucht. „Ich habe dreißig Jahre wie im Mittelalter gelebt“, sagt sie eines Tages, „damit muss Schluss sein. Ich will ganz neu anfangen.“
Letztlich – sagt sie – war dann doch alles ganz einfach. Es war eine einfache Frage ihres Kindes, die alles ins Rollen gebracht hat: „Mama, was ist das: die Mafia?“
Giusy Vitale wird der erste weibliche Boss, der sich ins Zeugenschutzprogramm aufnehmen lässt.
Auch sie hat drei Brüder. Auch sie ist die Jüngste in der Geschwisterreihe: Nunzia Graviano, von der Familie liebevoll „a Picciridda“, „die Kleine“, genannt. Doch das Nesthäkchen ist kein verträumtes und verzärteltes Mädchen. Sie wächst fest verankert im Wertekodex der Mafia auf und übernimmt, als ihre Brüder im Gefängnis landen, eine Schlüsselfunktion im Clan. Nunzia wacht über die „Graviano-Holding“. Sie ist die Finanzexpertin des Clans und entwickelt sich in vielen Bereichen zum „Alter Ego“ ihrer mächtigen Geschwister. „Ich war mir ziemlich sicher, dass sie der Boss war. Ich hatte zumindest diesen Eindruck“, sagt später Giorgio Puma, ein bekannter und angesehener Steuerberater aus Palermo, während seiner Vernehmung aus. Puma, der auch beste Beziehungen zu den Justizbehörden hatte, für die er immer wieder als Konsulent tätig war, arbeitete für die Familie Graviano. Seine erste Ansprechperson in wirtschaftlichen Fragen war Nunzia, und es war ein Kontakt auf Augenhöhe mit einer fachlich bestens informierten Frau. Nunzia zeigt stellvertretend auf, dass sich die Mafia der 1990er-Jahre verändert hat. Sie ist nicht mehr von coppola und lupara – also von der typisch sizilianischen Mütze und der berüchtigten abgesägten Flinte – geprägt, die auch in unzähligen Hollywood-Filmen als Symbole Verwendung finden. Nein, sie dringt vielmehr in den Börsen- und Finanzbereich ein – was aber nicht bedeutet, dass die Clans deshalb weniger grausam agieren. Nur die Prioritäten haben sich verändert.
Wie Giusy Vitale ist auch Nunzia aus dem Stoff, aus dem Bosse gemacht werden. Doch anders als die junge Frau aus Partinico, die einem Mafia-Clan aus den ländlichen Gebieten angehört, stammt Nunzia aus Palermo und gehört der städtischen Cosa Nostra an. Ihre Heimat ist nicht die Kleinstadt mit ihren vorgelagerten Ställen und Feldern. Sie ist ein Mitglied der sogenannten Mafia-Bourgeoisie, die sich durch sicheres Auftreten und eine ausgeprägte Vorliebe für Luxus auszeichnet.
Nunzia Graviano wird 1968 in eine der tonangebenden Mafia-Familien der sizilianischen Hauptstadt hineingeboren. Mit vierzehn Jahren verliert sie ihren Vater. Michele Graviano hatte sich mit den Corleonesern verbündet und wurde dafür im Zweiten Mafia-Krieg von der gegnerischen palermitanischen Fraktion im Rahmen eines Rachefeldzuges ermordet. Acht Jahre später wird die Familie für diesen Verlust entschädigt und ihre Treue zu Totò Riina belohnt. Nunzias Brüder, der damals 29-jährige Filippo und der 27-jährige Giuseppe, treten die Nachfolge des inhaftierten Clanchefs Giuseppe Lucchese an. Filippo und Giuseppe werden somit formal die Herren über Brancaccio-Ciaculli, ein Industrie- und Wohnviertel in Palermo. Hier, wo um das Jahr 1000 ein arabischer Emir seine blühende Residenz erbaute und später die normannischen Eroberer einen riesigen künstlichen See anlegen ließen, herrschen nun die Gravianos. Und damit Gewalt und Verbrechen.
Als im Jänner 1993 der Superboss Totò Riina nach über zwei Jahrzehnten mitten in Palermo endlich festgenommen wird, ist das eine der wichtigsten Herausforderungen in der kriminellen Karriere des Brüderpaares. Es geht um die Zukunft der Cosa Nostra. Gemeinsam mit den bedeutendsten Bossen der Insel – wie Matteo Messina Denaro und Giovanni Brusca – nehmen Giuseppe und Filippo an einem eilig einberufenen Mafia-Gipfel nahe Bagheria teil. Dort beraten sie, wie die Cosa Nostra auf die Festnahme des capo dei capi reagieren soll. Die Antwort ist schnell gefunden und die Strategie der kommenden Monate ebenso: Die Mafia wird den Staat erneut herausfordern. Und sie wird dies wieder mit Bomben tun. Nicht mit einem einzelnen Attentat, sondern gleich mit einer Bombenserie. Nach den tödlichen Attacken auf Richter Giovanni Falcone und – nur 57 Tage danach – auf seinen Mitstreiter Paolo Borsellino will die Cosa Nostra mit aller Härte zeigen, dass sie in der Lage ist, den Staat Italien in die Knie zu zwingen. Sie will dies umso mehr, da die Ermordung der beiden auch außerhalb Italiens bekannten Juristen zum ersten Mal eine Welle der Empörung in Sizilien selbst ausgelöst hatte und die Behörden in Rom endlich reagierten: Tausende Soldaten wurden auf die Insel geschickt, wie in eine abtrünnige, aus dem eigenen Machtbereich entglittene Provinz. Doch von dort kommt eine erneute Kampfansage. Mit ihrer neuen Strategie zielt die Mafia nicht nur auf Menschen, sondern in erster Linie auf Kulturdenkmäler ab. Richter und Staatsanwälte können ersetzt werden, zitiert der vormalige oberste Anti-Mafia-Staatsanwalt Pietro Grasso aus Abhörprotokollen, weltberühmte Monumente nicht. Dass dabei auch unschuldige Menschen ums Leben kommen können, wird nicht nur in Kauf genommen, sondern ist vielmehr beabsichtigt. Es verstärkt die Wirkung. Die Mafia kennt keine Gnade.
In Italien herrscht Anfang der 1990er-Jahre ein gefährliches Machtvakuum. 1992 wird Mario Chiesa, Leiter eines Altenheimes und Mitglied der Sozialistischen Partei, in Mailand erwischt, als er eine Schmiergeldzahlung in der Höhe von sieben Millionen Lire annimmt. Der Skandal