Die Stunde der Patinnen. Mathilde Schwabeneder-Hain
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„Ich war immer wie ein wilder Junge“, sagt sie über ihre Kindheit und Jugendzeit. Mit vierzehn Jahren fährt sie bereits Auto, sie schuftet mit Vergnügen in der Landwirtschaft, trägt Hosen und Stiefel wie die Arbeiter in den Ställen. Vergnügungen außerhalb der eigenen vier Wände kennt sie nicht. Erste Versuche, sich hin und wieder ein wenig zu schminken, werden von den Brüdern auf das Schärfste verurteilt. Wenn sie ohne Erlaubnis das Haus verlässt oder am Fenster hinter dem Vorhang Ausschau nach jungen Männern hält, hagelt es Prügel. Durch eine Ohrfeige reißt ihr eines Tages das Trommelfell. Giusy lernt ihre Weiblichkeit zu verdrängen. Sie rechtfertigt die Grausamkeit ihrer Brüder vor sich selbst einmal mehr im Namen ungeschriebener Mafia-Verhaltensregeln. Ihre Familie ist anders als die ihrer Freundinnen. Giusy hat noch weniger Spielraum als gleichaltrige Mädchen auf dem Land in Sizilien. Sie wächst streng bewacht auf, wie ein Soldat der Reserve in Ausbildung für das Heer des Clans.
Doch die Schwester, die ihre Brüder abgöttisch verehrt, ordnet sich nicht immer unter. Sie muckt auf und wählt den Mann, mit dem sie dieser Enge entkommen will, selbst aus. Ein Affront für die Brüder, der dadurch umso größer wird, als der zukünftige Ehemann nicht aus dem Mafia-Milieu stammt. Das Nein von Leonardo und Vito ist kategorisch und zeigt sich in Prügel für die Schwester und die Eltern.
Eines Tages – so erzählt Giusy Vitale der Schriftstellerin Camilla Costanzo – lädt ihr Bruder Leonardo sie zu einer Fahrt aufs Land ein. Die junge Frau hofft auf ein klärendes Gespräch mit dem ältesten Bruder und auf seine Zustimmung zur Hochzeit. Doch sie legen den Weg schweigend zurück, bis Leonardo vor einem großen Baum Halt macht. Kaum sind sie ausgestiegen, packt er ihren Kopf und dreht ihn brutal nach oben, wo sich ihr ein grauenhaftes Bild auftut. Von den Ästen hängen, durch Schlingen verbunden, fünfzehn inzwischen erstarrte Hundekörper. Einige seiner Schafe sind von einem Hund gerissen worden, erklärt Leonardo drohend seiner Schwester. Aus Wut habe er alle streunenden Hunde, die er fand, dafür verantwortlich gemacht und lebendig aufgehängt. „Da siehst du, wie es einem ergehen kann, wenn man mich nicht respektiert. Nur so werden sie lernen.“
Doch Giusy setzt sich trotz Prügel und Drohungen durch. Ein Jahr später, mit neunzehn, heiratet sie und bekommt im Abstand von einem Jahr zwei Kinder, Francesco und Rita. Der ruhige und eher schwache Angelo Caleca, der vor Gericht von seiner Ehefrau als „la signora“ spricht, bringt nicht die erhoffte Erfüllung ihres Daseins. Ein Neubeginn wird das Leben als Ehefrau und Mutter nicht. Giusy bleibt eine Vitale und ihrer Herkunftsfamilie mehr denn je aufs Engste verbunden. Immer häufiger übernimmt sie die Aufgaben der Mutter, bis sie sie letztlich ganz ersetzt. Giusy verfolgt die Justizangelegenheiten der Brüder, sie hält Kontakt zu den Anwälten – oft Top-Juristen der Insel – und sie betreut ihren flüchtigen Bruder Vito. Drei Jahre wird er von der Polizei gesucht. Giusy hingegen weiß, wo er steckt. Sie trifft ihn sogar mehrmals wöchentlich in seinem jeweiligen Versteck, bringt ihm Essen, Trinken und auch Waffen, versorgt ihn mit Informationen. Sie lernt als Überbringerin von Botschaften zwischen den Clanmitgliedern den Kontakt zu halten und sorgt dafür, dass die oft verschlüsselten Nachrichten an die richtige Adresse kommen. Immer tiefer taucht sie in das operative Geschäft und die Geheimnisse des eigenen Clans ein. Zuerst werden ihr die legalen Geschäfte der Familie anvertraut – die landwirtschaftlichen Betriebe und deren Verwaltung. Gelder aus diesen Unternehmungen können ordnungsgemäß verbucht und auch angelegt werden. Doch nach den sauberen Einkünften kommen alsbald auch die illegalen Einnahmen in Giusys Hände: Schutzgelder, die Geschäftsleute und Unternehmer gezwungen sind an die Familie zu zahlen; Gelder aus Erpressungen; Schwarzgelder aus dem Bereich öffentlicher Aufträge. Kein Bau einer Straße oder Brücke, keine Errichtung einer Schule oder eines anderen öffentlichen Gebäudes, bei denen die Cosa Nostra nicht mitschneidet. Die Mafia hatte in Sizilien ein unfehlbares System aufgebaut, in dem es Politiker und Unternehmer eng an sich band. Das organisierte Verbrechen garantierte, dass alle Arbeiten reibungslos und störungsfrei ablaufen würden. Im Gegenzug fließen in die Kassen der Mafia anteilige Beträge in der Höhe von zwei bis drei Prozent der Gesamtsummen. Ein Millionengeschäft.
Viel wichtiger als die Finanzoberhoheit innerhalb des Clans ist für Giusys Aufstieg im Inneren der Cosa Nostra der Umstand, dass sie zu Versammlungen mitgenommen wird. Ihre Brüder sind bekannt als treue Vasallen des gefürchteten Totò Riina, doch das muss Tag für Tag neu bewiesen werden. Der Boss, dessen Devise es war, man müsse alle Möglichkeiten ausnutzen, um ein gestecktes Ziel zu erreichen, und dafür auch bereit sein, jegliches Hindernis zu eliminieren, verlangt absoluten Gehorsam und völlige Unterwerfung. Hatte er Zweifel an der Ergebenheit eines Mitglieds der „Ehrenwerten Gesellschaft“, scheute er nicht davor zurück, seine Killer loszuschicken. Auch die Mitgliedschaft in seinem Clan war keine Lebensversicherung. Die Lage in Sizilien ist Anfang der 1990er-Jahre wieder einmal hochexplosiv.
Giusys Brüder haben Beziehungen zu den wichtigsten Mafiosi der Insel aufgebaut und erweitern nun kontinuierlich ihren Machtbereich. 1992 zählen sie zum kleinen Kreis derer, die das Sagen haben. Dabei kommen ihnen auch äußere Umstände zu Hilfe. Nach dem aufsehenerregenden Maxiprozess von Palermo im Jahr 1986 sind etliche Ehrenmänner untergetaucht. Auch Giovanni Brusca, Totò Riinas profiliertester Killer und von ihm persönlich in die Cosa Nostra aufgenommen, ist flüchtig. Unterschlupf findet er auf dem Gebiet der Vitale. Leonardo nimmt sich persönlich seiner an, sorgt für den unauffälligen Wechsel seiner Verstecke und für seine Versorgung. Brusca, ein Analphabet, befestigt auch die 500 Kilo Sprengstoff unter der Autobahn bei Capaci, deren Zündung den Anti-Mafia-Jäger Giovanni Falcone mit seiner Frau und seinen drei Leibwächtern das Leben kostet. Bruscas Schutz sichert dem Vitale-Clan einmal mehr seine Position.
Wie nahe die Familie der cupola, der Cosa-Nostra-Spitze ist, zeigt sich in mehreren Aussagen Giusys. Eines Tages, Anfang 1992, ruft sie ihr Bruder Leonardo an. Er braucht ihre Hilfe. Sie soll Getränke und Brote besorgen und alles zu einem der Ställe der Familie in Val Guarnera bringen. Schnell müsse alles gehen, gibt Leonardo ihr mit, sehr schnell. Als sie in einiger Entfernung zum Stall ihr Auto parkt, bemerkt sie eine Gruppe Männer, die im Kreis stehen, und ein großes schwarzes Fahrzeug mit Chauffeur. Bei näherem Hinsehen entdeckt Giusy eine Figur, die sie nicht zuordnen kann: Es ist ein Bischof in vollem Ornat. Erst am Abend zu Hause erfährt sie von ihrem Bruder die wahre Identität des vermeintlichen Würdenträgers. Es war der Mafia-Boss Bernardo Provenzano. Seit den frühen 1960ern war er nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen worden. Mit seiner Verkleidung wollte er die Polizei narren.
Bernardo Provenzano, Spitzname „Traktor“
Provenzano stammt wie Totò Riina aus Corleone und war lange Zeit dessen rechte Hand. Später wird er jedoch zu Riinas internem Widersacher und letztlich sein Nachfolger. Schon als junger Mann erhielt Provenzano den Spitznamen „Binnu u’ Tratturi“, „Onkel Traktor“. Und „der Traktor“ walzt alles nieder, was sich ihm in den Weg stellt. Mehr als 50 Morde werden ihm angelastet. Binnu schieße wie ein Gott, soll bereits sein damaliger Boss, Luciano Liggio, über den jungen Provenzano gesagt haben. Insgesamt 43 Jahre lebt das „Phantom von Corleone“ im Untergrund, bis er endlich am 11. April 2006 festgenommen wird. Nach Riinas Verhaftung 1993 war er der alleinige Herrscher über die Cosa Nostra.
Doch davon ist bei dem Mafia-Meeting auf dem Land bei Partinico noch nicht die Rede. Die Differenzen zwischen den beiden Superbossen werden jedoch auch das Leben des Vitale-Clans maßgeblich beeinflussen.
Eine Zeitlang ist Giusy als Fahrerin für ihren älteren Bruder tätig, der keinen Führerschein hat. Später nimmt sie aktiv an den streng geheimen Versammlungen der Mafia teil. Bei einem dieser Meetings bemerkt sie von weitem auch Totò Riina. Ein unscheinbarer Mann, erinnert sie sich, der schweigend an der Versammlung teilnimmt und nur hin und wieder mit dem Kopf nickt. Kaum zu glauben, dass dies der Drahtzieher vieler Attentate ist, die ganz Italien in Schach halten werden, darunter auch die Ermordung des Richters Giovanni Falcone.