Die Stunde der Patinnen. Mathilde Schwabeneder-Hain
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Die junge Frau übt ihre Funktion mit Überzeugung aus. Sie sieht sich nicht nur als ausführendes Organ, sie entwickelt ihre eigene Vision einer zeitgemäßen Mafia. Nunzia – bestätigt Michele Prestipino, der sie bei einer Vernehmung als „sehr entschlossen, sehr resolut“ erlebt hat – verkörpert die Moderne innerhalb der Familie. Sie träumt von internationalen Geschäftsmodellen und möchte die organisatorische Zentrale des Clans ins Ausland verlegen. Bald ist das Land gewählt. Sie geht nach Südfrankreich, um von dort die Geschäfte der Familie abzuwickeln.
Mit dieser Entscheidung steht Nunzia im klaren Gegensatz zu den Frauen ihrer Brüder, die ihr anvertraut sind. Ihre Schwägerinnen bleiben der traditionellen Rolle der Mafia-Frauen treu. Die beiden ziehen ein Leben in Palermo einem anonymen Aufenthalt im Exil vor. Sie wissen, dass sie zuhause auf den Respekt der Clanmitglieder zählen können, der ihnen als Ehefrauen ehrenwerter Männer gebührt, die ihre Gefängnisstrafe „würdevoll“, weil nicht mit der Justiz kollaborierend, absitzen. Das schon historische Fach der passiven First Lady der Mafia ist jedoch Nunzias Sache nicht.
Nunzia ist bei allen wichtigen Entscheidungen, die das Überleben des Clans betreffen, dabei. Sie kommuniziert mit den Brüdern im Gefängnis, sie kümmert sich um die „Gehälter“ für inhaftierte Mafiosi und deren Familien, an sie wenden sich andere Mafia-Familien, wenn es darum geht, größere Entscheidungen zu treffen. Sie arbeitet Schulter an Schulter mit ihrem Steuerberater und ihrem Rechtsanwalt. Dank ihrer Fähigkeiten erleiden die wirtschaftlichen Unternehmungen der Familie keinen Einbruch, stellen die Untersuchungsrichter fest. Die „Familie“ besteht somit weiter.
Nunzia sorgt dafür, dass die Gelder in Brancaccio eingetrieben werden. Noch im Jahr 2012, also bereits nach ihrer zweiten Verhaftung, soll sie allein aus Vermietungen von Wohnungen und Büros 66.000 Euro monatlich eingenommen haben. Doch die Mieten tragen in den 1990ern nur einen kleinen Teil zum Vermögen bei. Die Familie Graviano verfügt über einen großen Immobilienbesitz, den es angesichts der veränderten Lage zu verkaufen gilt. Sei es in fingierten Geschäften an Strohmänner, sei es tatsächlich in realen Transaktionen. Das Imperium muss neu geordnet werden.
Einblick in das von Nunzia verwaltete Familienvermögen geben die Abhörprotokolle der Ermittler. So beraten sich der Anwalt der Familie, Domenico Salvo, und Filippo Graviano im November 1998 über den Ankauf einer neuen Wohnung für die Mutter in Palermo. „Es gibt ein Palais aus dem achtzehnten Jahrhundert“, setzt der Jurist die Familie in Kenntnis, „vollständig restauriert und renoviert. Allein der Salon ist 260 m2 groß.“ „Kaufen, und zwar sofort, ohne lange nachzudenken“, ist die Antwort Filippos. „Je größer, desto besser, dann haben eventuell auch andere Familienmitglieder Platz.“
Zu dieser Zeit lebt Nunzia bereits an der Côte d’Azur. Sie schlägt in Nizza ihren Hauptwohnsitz auf und beherbergt je nach Bedarf einmal die Mutter, einmal die Schwägerinnen. Nunzia liebt das Leben an der französischen Mittelmeerküste, das eleganter, aber vor allem sicherer ist als in Palermo. Hier kann sie sich unerkannt und unbehelligt in der Öffentlichkeit bewegen. Hier kann sie in Ruhe ihre Finanztransaktionen abwickeln.
Wann immer es die Geschäfte verlangen, pendelt sie zwischen Frankreich und Sizilien. Mit ihren Brüdern hält sie regelmäßig Kontakt. Einerseits, um von ihnen Anweisungen bezüglich Vermögensverwaltung sowie Mafia-Aktivitäten entgegenzunehmen, andererseits, um von ihren eigenen Tätigkeiten zu berichten. Während der Gespräche benützen die Geschwister einen familienspezifischen Kommunikationscode. Sie verschlüsseln nicht nur Namen und Sachverhalte, sie verwenden auch eine eigens erfundene Gestik, die die Ermittler erst im Laufe der Beobachtungen entschlüsseln werden. Jede noch so harmlose Bewegung, wie das Tippen auf die Stirn oder das Berühren des kleinen Fingers der linken Hand, verweist auf einen – fast immer – illegalen Tatbestand und wird später in der Beweisführung von der Justiz verwendet.
Selbständig und doch nicht frei
Nunzia ist die Managerin der Familie und als solche ist sie permanent auf der Suche nach neuen Geschäftsideen. Die Zeiten sind schwierig für die sizilianische Mafia. Nach den Attentaten der Jahre 1992 und 1993 geht der Staat entschieden gegen den militärischen Arm der Cosa Nostra vor. Immer häufiger gehen der Polizei Mitglieder ihres Clans ins Netz. Die steigende Zahl inhaftierter Männer stellt sie vor neue Herausforderungen. Als Clanchefin muss sie für deren Unterhalt und den der Angehörigen aufkommen. Das bedeutet neue, nicht vorhergesehene Ausgaben. Sie steigt daher in das verbotene Glücksspiel ein, lässt Spielautomaten für sich arbeiten, die die Kasse für sie klingeln lassen und für satte Gewinne sorgen.
Doch Nunzias große Stärke liegt im Finanzwesen. Die hübsche junge Frau mit dunkelblondem, halblangem Haar ist eine gern gesehene Kundin etlicher Großbanken in und um Nizza. Sie eröffnet Konten und Depots und spezialisiert sich auf Aktien und Portfolios. Die Herkunft des investierten Geldes, das ausschließlich aus illegalen Einkünften stammt, scheint niemanden zu interessieren. Nunzia ist eine aparte Erscheinung, ihr Auftreten ist gewandt, wie ihre Brüder legt auch sie Wert auf Designerkleidung. Aber sie ist vor allem intelligent, wie auch die Ermittler feststellen. Immer bemüht, jedes noch so kleine Risiko so gering wie möglich zu halten. Wenn sie etwa mit ihrem Anwalt sprechen muss, tut sie das nur von einem öffentlichen Telefon aus. Der Gebrauch von Mobiltelefonen ist genau reglementiert und nur auf einige Themen beschränkt.
Das Risiko klein halten bedeutet auch, selbst über möglichst viele Informationen zu verfügen und möglichst wenig vom Wissen anderer abhängig zu sein. Die junge Frau bildet sich daher sprachlich und fachlich ständig weiter. Sie studiert die Feinheiten des Internets und lernt Französisch, sie verfolgt täglich die Aktien- und Börsenkurse in Radio und Fernsehen, und zu ihrer permanenten Lektüre gehört die hochseriöse Tageszeitung der italienischen Industriellenvereinigung, „Sole 24 Ore“, die sie auch im Gefängnis weiterhin lesen wird.
Selbständig, unabhängig, intelligent und emanzipiert, so wird Nunzia Graviano beschrieben. Als die junge Frau jedoch in Frankreich eine Beziehung zu einem aus Syrien stammenden Arzt beginnt, schlagen die althergebrachten Muster wieder durch und die Brüder zu. „Ich bin Sizilianer, du bist Sizilianerin, wir haben Traditionen. Wir kennen keine Scheidung und jede Beziehung muss in einer Ehe enden“, gibt ihr Bruder Giuseppe unmissverständlich zu verstehen. „Und“, fügt der Auftraggeber des Mordes an Pater Puglisi hinzu, „welche Religion hat denn der überhaupt?“ Die Botschaft ist klar: Der Freund wird von der Familie nicht akzeptiert. Vor die Wahl gestellt, sich entweder für die neue Liebe oder für die Ursprungsfamilie zu entscheiden, entscheidet sich Nunzia für Letztere – und bleibt damit letztlich den alten Prinzipien verhaftet. Dieselbe Frau, die nach der Verhaftung ihrer Brüder zu ihren „Untergebenen“ sagte: „Jetzt bin ich es“, gibt nun klein bei.
1999 wird Nunzia Graviano das erste Mal verhaftet und als Mafiosa verurteilt. 2011 nimmt die Polizei sie erneut fest. Zwei Jahre später kommt es zu einer weiteren Verurteilung. Wieder war Nunzia als Geschäftsfrau für den Clan tätig. Wieder leitete sie die Geldgeschäfte. Zur Tarnung führte sie offiziell eine Bar in Rom. In Wirklichkeit wurde weiter schmutziges Geld verwaltet und reingewaschen. Gelder aus Schutzgelderpressungen und anderen illegalen Aktivitäten. Zu den Spielautomaten kam das Transportwesen hinzu. Nunzia gab weiterhin die Linie vor und hatte noch immer ihre Leute fest im Griff. Und das Schmutzgeld wurde nach wie vor in Paketen verschnürt ins Haus geliefert.
Derzeit sind die Graviano-Brüder und ihre Schwester in Haft. Das Kapitel der Familie ist aber weiterhin