Der Scheich. Wolfgang Kemp

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Der Scheich - Wolfgang Kemp

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seines Vorgängers entmachten und seinen Clan im Clan wieder mit den Schlüsselpositionen ausstatten. Und jetzt kam die Familie Saud um eine Nachfolgeregelung nicht herum, die zum ersten Mal die Generation der Enkel Ibn Sauds einbezog – und das sind abstrakt betrachtet Tausende von Prinzen, alle so zwischen 40 und 60 Jahren, von denen sich freilich 95 Prozent sofort ausmendelten, weil sie nicht den Hauptlinien angehörten. Dieser Gruppe, vor allem den von Ressentiments und Langeweile erfüllten Prinzen am Rande, erteilte der Palast eine Warnung, indem er drei von ihnen quasi chirurgisch entfernte. Das früher erprobte Mittel einer Ausfinanzierung der Konflikte, also des Kaufs von Loyalität, genügt heute nicht mehr, denn viele Prinzen sind mittlerweile finanziell unabhängig von den regelmäßigen Zuwendungen aus der Palastkasse. Und dieser Fundus dürfte mehr als strapaziert sein. Verschwinden lassen kommt billiger.

      Die drei Prinzen sind keine Ausnahme. Erzwungenes Verschwinden (forced disappearance, incommunicado detention) ist eine leider im Nahen Osten weitverbreitete Form staatlicher Willkür, und wir sprechen hier nicht von den mehr oder minder gescheiterten Staaten Libanon, Irak, Syrien, Jemen, sondern von den Boom-Staaten am Golf, von Ländern, deren Besuch nicht nur bei den Staatsoberhäuptern des Westens hohe Priorität hat, sondern auch bei ihren Untertanen: 83,6 Millionen Fluggäste fertigte der Flughafen von Dubai 2016 ab. Und irgendwo in der Wüste, oft gar nicht weit von den internationalen Flughäfen entfernt, könnte man die mafqudin, die »fehlenden Menschen«, antreffen, so sie nicht schon im Sand verscharrt worden sind. Die Emirate und die anderen Golfstaaten sind Mitglieder der Vereinten Nationen, aber sie haben die wichtigsten Konventionen des Völkerbundes nicht unterschrieben. In der Praxis heißt das: Außer Geldbußen und Gefängnisstrafen sind Körperstrafen wie Auspeitschen, Verstümmeln oder Steinigen ebenso zulässig wie Foltern und öffentliche Hinrichtungen durch Feuer und durch das Schwert. Jahrelange Verschleppung von Prozessen und die Nichtentlassung nach Absitzen einer Strafe oder nach einem Freispruch gehören zu den eher lässlichen Sünden des Unrechtssystems.

      Dass zahlreiche Menschen in diesen Regionen verschwinden, so wie ihre Vorfahren früher in der Wüste einfach verloren gingen, das ist lediglich Gegenstand von speziellen Berichten der Menschenrechtsorganisationen.11 Als erste verschwinden Aktivisten aus dem politischen Widerstand, dann Arbeitsmigranten, weil man sich die Mühe einer formalen Anklage nicht gemacht hat und die Herkunftsländer sich nicht kümmern oder schlicht nicht informiert werden. Da verwundert es nicht, dass die Staaten am Golf von den Menschenrechtsorganisationen ganz unten eingestuft werden, was bürgerliche Freiheiten und die Beteiligung am politischen Leben angeht: Saudi-Arabien rangiert in der Einschätzung von Freedom House am Ende der Liste, gemeinsam mit Syrien, Nordkorea, Somalia und der Zentralafrikanischen Republik.

      Es gehen aber ebenso Ausländer, »Ungläubige«, verloren, wenn sie irgendeinem Scheich in die Quere gekommen sind. Nehmen wir den Fall des deutschen Filmemachers Hans Peter Schneider-Döll. Er war ohne Anklage im Emirat Abu Dhabi quasi in staatliche Geiselhaft genommen worden, um seinem Arbeitgeber, einem Scheich aus dem Clan Maktoum, der Herrscherfamilie im benachbarten Dubai, einen Schadensersatz abzupressen. Sieben Monate Haft in den sechs Haftanstalten von Abu Dhabi, darunter in dem berüchtigten Wüstengefängnis, folgen. Dann kommt es zu einer Szene, die uns sehr genau den »Verschwundenen« in seiner Aporie vor Augen führt. Nach monatelangem Betteln und Hungerstreiken wird Schneider-Döll einem Beamten der Gefängnisverwaltung zugeführt. Sein Begehr ist, mit einem Anwalt telefonieren zu dürfen. »Der Assistent hat Peters Akte vor sich liegen und blättert sie durch. Dann sagt er erstaunt: ›Aber es gibt doch überhaupt keine Anklage gegen Sie. Wofür brauchen Sie dann einen Anwalt?‹« Das ist der Kafka-Moment. Nicht angeklagt, wer begehrt da noch einen Rechtsbeistand, fragt zu Recht der Hüter des Gesetzes. Der Tatbestand monatelanger Freiheitsberaubung bleibt unmarkiert: Schlafen auf Betonfußboden, Zellen mit Fenstern ohne Glas, schwere Erkrankungen, Hungerstreik – das ist die fraglose Realität im Wüstengefängnis.

      Dann nähert sich der Deutsche im Dialog einer gefährlichen Klippe, die den Sturz in das Schattenreich der ewig Verschwundenen bedeuten könnte.

      »Der Assistent fragt nach: ›Und was erwarten Sie von einem Anwalt? Was soll er für Sie tun?‹ Peter ist in eine Falle geraten. Natürlich kann er nicht sagen, dass er ein Verfahren gegen seine Inhaftierung anstrebt. ›Ich will mich nur beraten lassen.‹ ›O.k., Sie können gehen. Werden Sie nun wieder essen?‹«12

      Die Falle würde in der Tat zuschnappen, wenn ein Festgenommener das Unaussprechliche, also das Unrechtssystem, zur Sprache bringen würde: hier vor Ort und möglicherweise irgendwann danach, nach seiner Entlassung. Solcher Einspruch würde aber nur von denen zu erwarten sein, die mit dem ungemein kreativen Katalog der Verbrechen und Strafen, der Scharia heißt, und der von ihr abgeleiteten staatlichen Gesetze nicht vertraut sind. Zuerst einmal: Die Gesetzeslage in den Vereinigten Arabischen Emiraten räumt den Sicherheitskräften das Recht ein, Verdächtige 106 Tage »zurückzuhalten«, wenn sie ausreichend suspekt sind, »den Staat zu unterminieren oder die Einheit der Gesellschaft in Gefahr zu bringen«.13 Wenn dann Anklage erhoben wird, dauert es oft Jahre, bis der Prozess stattfindet. Das wäre sozusagen die offizielle Freiheitsberaubung.

      Nun ist aber auch den gewöhnlich gut informierten Menschen am Golf bewusst, dass Verschwindenlassen und Inhaftierung ohne Anklage im Rechtssystem der freien Welt nicht zulässig sind. Und an dieser Stelle droht die größte Gefahr, denn jetzt greift unweigerlich der Mechanismus einer Scham-und-Schuld-Kultur. Da man in ihr kaum selbst schuld sein und nicht zugeben kann, dass Kerker ohne Anklage ein Verstoß gegen die Menschenrechte ist, und man von der Kanzel oft genug gehört hat, dass den kuffar, den »Ungläubigen«, ohnehin nichts Besseres geschehen könne, lässt man den Corpus delicti verschwinden. Habeas corpus? Exit corpus! Dieses Schicksal erleiden immer wieder Frauen, die in den Emiraten vergewaltigt werden und diese Tat anzeigen. Sie werden dafür inhaftiert oder unschädlich gemacht, indem man sie verschwinden lässt, damit den Männern die ungeheure Last genommen wird, sich schuldig zu bekennen.14

      Und in dieser verhängnisvollen Klemme sitzen auch die verschwundenen Prinzen. Ihr Vergehen heißt in der Scharia fitna und meint Unruhe, Chaos, sozialen Unfrieden stiften. Im Westen schwerlich ein Straftatbestand, im obrigkeitsorientierten Islam ein Kapitalverbrechen und von Mohammed, der es nicht mochte, wenn man ihm widersprach, eigentlich als das höchste aller Vergehen eingeordnet. Salman Rushdi, der Verfasser der »Satanischen Verse«, und Kurt Westergaard, der Zeichner der Mohammed-Karikatur, das sind zwei schwere Fälle von fitna. In einem islamischen Staat hat der Herrscher den göttlichen Auftrag, für Harmonie und Frieden zu sorgen. Wer dem zuwiderhandelt, muss aus der Gemeinschaft entfernt werden. Das widerfuhr den aufmüpfigen Prinzen, das kann aber vor der Welt nicht verhandelt werden. Dass fitna in den eigenen Reihen auf tritt und dass der Herrscher sich deswegen gezwungen sieht, Familienmitglieder zu kidnappen: Schande über Schande auf der einen, nicht kommunizierbare Scham auf der anderen Seite. Exeunt regis filii.

      Über die Privilegien der Prinzen und Scheichs wird noch ausführlicher zu sprechen sein. Wir werden aber auch weiterhin und angeregt durch die zuletzt angerissenen Fälle die These verfolgen, dass die Prinzen, sprich Scheichs, hervorragend als Phänotypen ihrer Epoche und ihrer Kultur taugen. Denn an ihnen wird exerziert, was jedem anderen zustoßen kann. Spurlos verschwinden z. B. Und sie tun Dinge, die für ihre Zeit- und Altersgenossen ebenfalls höchst charakteristisch sind oder von diesen sehr gerne getan würden: im Exzess leben, aber auch Widerstand leisten. Oder – und auch davon wird zu sprechen sein – Vorrechte zum eigenen Vorteil missbrauchen.

      Wenn die saudischen Prinzen entführt und weggesperrt wurden, dann lässt sich das als Symbol einer Entwicklung zur totalen Überwachung und Repression lesen. Die Geheimpolizei Mabahith schien den Wüstenstaat immer schon stasimäßig im Griff zu haben, aber in Reaktion auf den Arabischen Frühling hat man doch eine neue »Sicherheitsarchitektur« erarbeitet, die in jeder Hinsicht state of the art ist. Gemeint sind die Künste der Überwachung, Kriminalisierung, Folterung und Bestrafung. Die Saudis hatten seit den neunziger Jahren für ein staatenübergreifendes Überwachungssystem der Ölmonarchien geworben, was die anderen

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