Zwei Freunde. Liselotte Welskopf-Henrich
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Seine Züge spannten sich an, und er runzelte die Stirn, wie er schon als Schüler getan hatte, wenn sein Verstand einen gesuchten Gegenstand hervorholte und ihn, scharf wie ein Messer, zerteilte. Aus dem trübe scheinenden Wasser sich wiederholender Verhandlungen von Plenum und Haushaltsausschuß über den Etat des Ministeriums fischte Wichmann die Perlen einiger Tatsachen heraus, deren Kenntnis für die neue Auseinandersetzung dieses Jahres benötigt wurde. Als sich das Material häufte und der Füllhalter immer mehr der linienlosen Bogen mit Notizen bedeckte, fielen dem Suchenden die ersten wichtigen Zusammenhänge auf.
Seine Feder und seine Stifte eilten über das Papier. Als er seine Disposition prüfte, schien sie ihm gut, und die kleineren Bemerkungen, Seitenblicke und Hiebe, die aus den Parlamentsverhandlungen noch zur Sache gehörten, schwirrten fast von selbst herbei und gleich zu dem gehörigen Platz, als sei ein Magnet in Wichmanns Hand gekommen. Er hatte Glück und fand mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Glück? Zufall? Notwendigkeit? Das Gefühl, vom Schicksal begünstigt zu sein, das seinem stützebedürftigen Selbstbewußtsein noch mehr zu schmeicheln vermochte als der Stolz auf eigene Leistung, machte Oskar Wichmann kindlich froh. Er hatte einige sehr wichtige Aussagen gefunden, die im nächsten Turniergang seines Ministeriums mit dem Parlament als Waffe zu verwenden waren.
»Seines« Ministeriums!
Das war das erste Mal, daß Oskar Wichmann dieses Wort der Zusammengehörigkeit gedacht hatte.
Der Zeiger der elektrischen Uhr über der Tür ging ruckweise vor. Der Arbeitende bemerkte ihn erst jetzt, und jetzt mochte er auch ruhig vorrücken. Es war zwölf Uhr. In kaum zwei Stunden hatte der Assessor geleistet, was andere – oder auch er selbst an weniger glücklichen Tagen – kaum in der acht- bis zehnfachen Zeit hätten schaffen können. Sein eindringliches Interesse hatte ihn ganz in der Arbeit versinken lassen; jetzt tauchte er auf wie ein Taucher aus tiefem Wasser, der lachend an der Oberfläche prustet, während seine Züge noch die überwundene Anstrengung verraten. Bis zur Mittagspause um dreizehn Uhr blieb eine Stunde; bis dahin konnte er so weit vorbereitet sein, daß er nach einer leiblichen Stärkung mit dem Diktat beginnen würde.
»Guten Morgen!«
Wichmann schrak zusammen, als der Gruß nahe seinem Ohr erklang. Er hatte nicht bemerkt, daß jemand eingetreten war, mußte aber vor sich selbst zugeben, daß die hastig atmende Dame mit den geröteten Wangen nicht als Geist, sondern in fleischlicher Realität neben ihm stand. Sie warf treffsicher die Glacéhandschuhe auf das Pult mit den ungeordneten Akten und öffnete einen Schrank, in den sie schnell ihren Hut legte.
»Bitte, ist jemand dagewesen?«
»Nein, gnädiges Fräulein – zu Ihrer Beruhigung – niemand außer meiner Wenigkeit. Und ich habe Ihr Anwesenheitssymbol« – Wichmann nickte nach der Seidenkappe am Garderobenständer – »durchaus ernst genommen.«
Das schlanke Mädchen lachte unmelodisch, aber freundlich. Sie ließ sich in den Armstuhl am Pult fallen; die Beine mit den faltenlosen Seidenstrümpfen stellten sich chic und undienstlich zwischen Stuhl und Pult, und aus der sich öffnenden Krokodilledertasche kamen Kamm, Spiegel und Puder. Die Bubilocken, die der Friseur erst vor kurzem gelegt haben konnte, erhielten eine persönliche Note.
»Sind Sie der neue Assessor …?«
Der Angeredete stand auf.
»Wichmann …«
»Hüsch … Lotte Hüsch. Zur Zeit Bibliothekarin, wie Sie sehen.«
»Ihre Bekanntschaft ist für mich eine Freude, gnädiges Fräulein.«
»Ja? Warum?«
»Weil Sie mir sicher verraten können, wo sich das Bücherverzeichnis befindet.«
»Ach je … das Verzeichnis … das muß hier irgendwo …« Akten, die illustrierte Zeitschrift und zwei Paar Handschuhe wurden umhergeräumt.
»Da … da haben Sie ja Glück … da ist es. Wollen Sie selbst nachsehen?«
»Das geht wahrscheinlich am schnellsten.«
Wichmann blätterte und holte sich dann das gesuchte Buch aus einer hinteren versteckten Reihe.
»Der Pöschko, das Ekel, ist also wirklich nicht dagewesen?«
»Wenn ich ihn nicht ebenso sträflich übersehen habe wie Sie, Gnädigste, beim Eintreten – nein.«
»Gott sei Dank. Sie wissen doch, daß ich seit neun Uhr hier war? Nicht?«
Die Augen spielten bittend.
»Ihr Hut und das erste Paar Handschuhe …«
»Na, das genügt doch, nicht?«
Verbeugung. Es war ja wohl Kavalierspflicht, in bestimmten Fällen zu falschen Aussagen bereit zu sein.
»Sind Sie schon bei Grevenhagen gewesen, Herr Wichmann?«
»Ja.«
»Ein fabelhafter Mann. Finden Sie nicht auch?«
»Auf Grund welcher Tatbestände kommen Sie zu diesem Urteil, gnädiges Fräulein?«
»Er hat noch Manieren – nicht wie diese Kongoneger, die sonst in unserer Bruchbude umherlaufen. Er soll eine sehr interessante Frau haben. Wissen Sie?«
»Er hat noch nicht die richtige Gelegenheit gefunden, um mir seine Familiengeheimnisse anzuvertrauen.«
Das Mädchen lachte wieder stoßweise. Ihre Unterlippe zog sich dabei unter die oberen Schneidezähne zurück. Zierliche Finger, an denen ein Brillant funkelte, führten die Quaste aus Schwanenflaum über die Wangen.
»Sie werden bei Grevenhagen Besuch machen müssen. Er erwartet das. Etwas altväterisch. Korts ist zwar auch nicht empfangen worden, aber vielleicht bekommen Sie die Aufforderung zum, jour fix’ …«
»Ist das ein Grund zur Dienstbefreiung?«
»Hi-hä – jour fix bei Grevenhagen ist Donnerstag – an diesem Tag gehen wir sowieso früher, das ist Tradition. Überhaupt … kommen Sie mit uns zum Mittagessen? Korts und ich gehen um ein Uhr.«
»Wenn Sie gestatten. Falls ich meine Arbeit vorher abschließen kann.«
»Ist die so eilig?«
»Ich habe noch diese kindliche Überzeugung.«
Wichmann vertiefte sich wieder in seine Blätter und Bücher. Fünf Minuten vor eins konnte er mit dem Hochgefühl, ein Ziel