Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler

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Die Geschichte der Zukunft - Erik Händeler

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verändert auch den Schiffsbau völlig: Wird 1870 erst jedes zehnte aus Stahl gefertigt, sind es nur 20 Jahre später neun von zehn Schiffen. Sie kommen mit deutlich dünneren Platten aus. Stahlschiffe sparen so mehr Kosten, als es die fallenden Preise pro Tonne Stahl ausdrücken – das gilt für alle Bereiche, wo Stahl das bislang verwendete Eisen ersetzt (s. Grafik). An Stahlpfeilern hängen neue Brückenkonstruktionen, große Bahnhofshallen werden aus Stahlträgern errichtet. Bisher waren hohe Gebäude auf dicke, tragende Mauern aus Ziegelsteinen angewiesen, die nur wenige Fenster erlauben. Mit dem Stahlbau beginnt jetzt im völlig übervölkerten New York und Chicago die Ära der Wolkenkratzer. Auch dabei zieht sich wieder das technologische Netz gegenseitig nach oben: Elektrischer Strom ermöglicht einen sicheren Lift, das Telefon die Kommunikation über 20 Stockwerke hinweg. Andererseits verbessert der Stahl auch Anwendungen der Elektrotechnik, etwa für größere Generatoren. Mit der jetzt möglichen Massenproduktion in der Chemieindustrie werden neue Legierungen möglich, die den Stahl immer härter machen, was wiederum neue Werkzeuge generiert – zum Beispiel die Bohrköpfe, die den Panamakanal ausgraben.

      Kupfer wird durch Elektrolyse gewonnen, ermöglicht andererseits aber erst die Massen-Elektrifizierung. Aus elektrischen Hochöfen fließt besserer Stahl, was den Maschinenbau beflügelt, der mit härterem Stahl Metalle exakter verarbeiten kann. Rostfreier Stahl regt die Rüstungsindustrie an. Blechdosen bestehen ab jetzt nicht mehr aus Zinn-Weißblech, sondern zu 98 Prozent aus Stahl – das verändert die Haushalte und das Leben der Soldaten im Ersten Weltkrieg. Fahrräder aus Stahlrohren werden in den 1890er Jahren erschwinglich. Und auch Gebrauchsgüter wie Essbesteck ersteht der kleine Mann für weniger Geld.

       Nicht Makroökonomie, sondern der neue Kondratieff treibt den Wohlstand

      Der Markt ist kein völlig zufälliges Geschehen. Die Elektroindustrie entwickelt sich, wie sich alle Basisinnovationen entwickeln: Ihre Beschäftigung, ihr Umsatz und ihr Anteil an der Gesamtwirtschaft explodieren. In nur 17 Jahren legt die Zahl der Mitarbeiter bei Siemens von 4000 im Jahr 1895 auf 57.000 im Jahr 1912 zu, bei der AEG von 550 auf 22.650. Die Hälfte aller in der deutschen Elektrobranche Beschäftigten arbeitet in »Elektropolis«, in Berlin. Auch innerhalb der deutschen Industrie bekommt die Elektrobranche größeres Gewicht: 1895 arbeiten 24.000 Menschen in der Elektroindustrie, das ist nur jeder 250. Industriearbeiter. 1925 sind es 449.000 – das ist jetzt jeder 25. Der weltweite Umsatz von Siemens steigt von 800.000 Britischen Pfund 1893 auf 23,6 Millionen Pfund, AEG ist mit einem Umsatz von 22,7 Millionen Pfund fast gleichauf. Jeder von ihnen produziert allein mehr als der wichtigste US-Konkurrent General Electric, der 17,8 Millionen Pfund auf die Waage bringt.

      Die Elektrifizierung spiegelt sich auch in der Weltkupferproduktion wider: Sie steigt zwischen 1875 und 1900 von 130.000 auf 525.000 Tonnen. Welches wirtschaftliche Gewicht der elektrisch hergestellte Stahl bekommen hat, verdeutlicht sein Verhältnis zum Branchenumsatz des ersten Kondratieffs: Während die US-Wirtschaft 1901 Textilien für eine Million Dollar produziert, produziert sie im selben Jahr Stahl im Wert von einer Milliarde Dollar.52 Zwischen 1880 und 1913 steigt der US-amerikanische Stahlausstoß von einer auf 31 Millionen Tonnen, in Deutschland von 0,7 auf 18,9 Millionen Tonnen, in Großbritannien dagegen nur von 1,3 auf 7,7 Millionen Tonnen. 1903 ist der Stahlhersteller Krupp das größte Privatunternehmen auf dem europäischen Kontinent.

      Dass kurz nach der Jahrhundertwende eine Elektrokrise ausbricht, ist kein Argument gegen die These, dass in diesen Jahren ein Kondratieffaufschwung stattfindet. Macht die Basisinnovation bei ihrer Bergtour eine Pause, dann stottert die Konjunktur, aber eben nur kurz. Das gibt es auch beim Eisenbahnaufschwung in den 1840ern und 1857 oder im Computeraufschwung um 1992: weil Investitionen nicht immer im selben Tempo von der Gesellschaft wirtschaftlich aufgenommen werden können, mit welchem sie errichtet werden. Deutlich nachzuvollziehen ist der dritte Kondratieff an der Zahl der Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen ins Ausland flüchten: In den zehn Jahren während des zweiten Kondratieffabschwungs zwischen 1881 und 1890 wandern 1.342.000 Deutsche in die USA aus, die zu dieser Zeit in Deutschland nicht ausreichend produktiv beschäftigt werden können. Das ist nicht nur ein Verlust an Menschen, sondern auch an Kapital. Denn sie nehmen im Durchschnitt vier bis sechs Jahreseinkommen eines Arbeiters mit. Trotz Bevölkerungsexplosion versiegt der Auswandererstrom, als Deutschland im dritten Kondratieff prosperiert: Zwischen 1901 und 1910 wandern insgesamt nur noch 280.000 Deutsche aus.

      Zu welchem Zeitpunkt man genau anfangen sollte, die Geschichte des dritten Kondratieffs zu erzählen, lässt sich nur willkürlich bestimmen. Ein Strukturzyklus berührt zwar alle Ebenen des Denkens und der Gesellschaft, aber er berührt sie unterschiedlich schnell. Seine grundlegenden Erfindungen brauchen Zeit. Lange, bevor sie die Wirtschaft antreiben, müssen sie zahlreiche Hindernisse überwinden, technische Probleme lösen, soziale Voraussetzungen und Infrastruktur schaffen, misstrauische Zeitgenossen vom Nutzen überzeugen. Längst beansprucht das neue technologische System große Entwicklungsressourcen, verändert Bildungslandschaft und Organisationsmuster, bis es stark genug ist, die Wirtschaft auf ein neues Wohlstandsniveau zu tragen. Seine Strukturen überlappen sich mit denen des Vorgängers und des Nachfolgers, verlaufen parallel. Ein neues technologisches System entwickelt sich zuerst nur als Nische, Nutzer oder Zulieferer des aktuellen Strukturzyklus und mausert sich zu einem eigenen Kondratieff, bis es in seinem wirtschaftlichen Gewicht selbst wieder zum Lieferanten seines Nachfolgers absinkt.

      Dass die USA so schnell auf der dritten Welle reiten, liegt an Thomas Alva Edison – und zwar nicht nur an seinen Erfindungen: Er überzeugt die Handelsorganisationen, seine Elektroausrüstung zu vertreiben. Die Deutschen müssen diesmal nicht in England spionieren, denn sie selbst treiben die Innovation voran. Der deutsche Erfolg im dritten Kondratieff hängt an zwei Personen: Emil Rathenau, der als Unternehmer in der AEG vor allem umsetzt, was andere erfinden, und Werner von Siemens, dem Pionier. Als Armeeingenieur entwickelt Siemens ein Elektrolyseverfahren, das Essbesteck wie Gabeln und Löffel vergoldet. Dann bastelt er an der Möglichkeit, Nachrichten mit elektrischem Strom zu übermitteln, und verbessert 1846 einen englischen Telegrafen. Von Anfang an ist aber auch er vor allem Unternehmer: Die Probleme, mit denen er sich beschäftigt, sucht er sich danach aus, ob jemand bereit ist, für die Lösung viel Geld auszugeben. Seine Firma ist 1847 ein Hinterhofgebäude in der Schöneberger Straße 19 in Berlin, in der Nähe des Anhalter Bahnhofs. Eine baufällige Treppe führt zu 150 Quadratmetern sparsamst eingerichteter Werkstatt.53 Dort schafft er die Voraussetzung für den Aufstieg der Elektrotechnik und den Wohlstand späterer Generationen: Da es noch nicht gelingt, Strom über weite Strecken zu leiten, weil die Kabel nicht gut isoliert werden können, erfindet Siemens eine Presse, mit der Kupferkabel nahtlos mit Guttapercha umhüllt werden können, einem gummiartigen Pflanzenprodukt. Mit zuverlässigen und billig isolierten Drähten ist der Weg frei für Telegrafen und die wirtschaftlich sinnvolle Verbreitung elektrischer Geräte.

      1852 gibt es in ganz Russland nur 600 Kilometer Eisenbahn – gegenüber 10600 Kilometern im vergleichsweise winzigen England. In industrielle Größenordnung katapultiert Siemens der russische Auftrag, während des Krimkrieges eine Telegrafenlinie von Sankt Petersburg über Kiew bis zum Kriegsschauplatz auf der Krim zu bauen und die komplette Anlage zu installieren, einschließlich der Leitungen, Masten, Isolatoren und Relaisstationen. Dabei sieht es in der Werkstatt aus wie bei Handwerkern, nicht wie in einer Fabrik: Jedes Werkstück wird per Hand hergestellt, bis 1863 gibt es noch nicht einmal eine Dampfmaschine, die Drehbänke und Bohrmaschinen werden von Hand bedient.

      Das Telegrafengeschäft kommt Ende der 60er Jahre ins Stottern: Es ist im zweiten Kondratieff gleichbedeutend mit Kabeln und Signalanlagen entlang der Bahntrassen. Siemens findet mit dem Dynamo 1866 als Erster einen Weg, mechanische Energie in elektrischen Strom zu verwandeln. Deswegen ist er führend in der Schwachstromtechnik, aber in der Starkstromtechnik liegt der amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison vorne. Und der junge Konkurrent Emil Rathenau wird den alten Herrn von Siemens bald überflügeln, weil dieser ein eigenwilliger Gründer ist, der es nicht schafft, sich vom allwissenden Prinzipal einer Garagenfirma zum Manager einer Massenproduktion

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