Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler
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1914 gibt es nur wenige kleinere Elektrofirmen in England – und diese gehören zum Teil den deutschen »Siemens brothers« oder sind Töchter des US-Giganten General Electric. Das britische Bildungswesen bringt zuwenig Ingenieure hervor, Banken und Unternehmer sind eher an kurzfristigen Renditen denn an langfristigem Engagement interessiert. Wirtschaftshistoriker schreiben, die Briten hätten eben mehr in ihrem eigenen Land investieren müssen, anstatt in aller Welt. Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg fließt die Hälfte ihrer Investitionen ins Ausland – aus Deutschland nur jede 20. Mark. Aber das ist ja keine Frage des Wollens, sondern ob die Investitionen rentabel genug sind. Weil die gesellschaftlichen Strukturen in England den dritten Kondratieff nicht fördern, gibt es dort auch wenig zu investieren.
Vor diesem Hintergrund wundern Spannungen und Flotten-Rüstungswettlauf zwischen Deutschland und England vor dem Ersten Weltkrieg nicht: Die Jahre, nachdem der »Lotse« Bismarck von Bord gegangen ist, bringen den Deutschen mit dem Wirtschaftswachstum das Hochgefühl der Wilhelminischen Ära. Aus der Perspektive der Kondratieff-Theorie ist es daher kein Wunder, dass Deutschland aufrüstet, seine wertlosen Kolonien ausbaut und sogar in blutigen Kriegen die dortige Bevölkerung dezimiert. Eine Gesellschaft, deren Wirtschaft im Vergleich zu früheren Jahren stark wächst, denkt, den konkurrierenden Nachbarstaat bald überholt zu haben und in die Tasche stecken zu können.
Marokko-Krisen, »Panthersprung«, Balkankriege, Spanisch-amerikanischer Krieg, Englischer Burenkrieg, Russisch-Japanischer Krieg und die japanische Expansion in China sind Ausdruck der wachsenden Spannung, die durch die Verschiebung von Macht und Ressourcen entsteht, weil die Staaten alle, aber unterschiedlich stark wachsen. Einige (wie etwa Frankreich) bekommen dabei Angst, gegenüber dem Nachbarn zu viel an Boden zu verlieren. Es wundert fast, dass der Erste Weltkrieg samt nachfolgender Revolutionen nicht eher ausbricht, und es scheint verständlich, dass so viele Zeitgenossen den Kriegsausbruch bejubeln, weil sie ihn als Erlösung von aufgestauter Spannung empfinden.
Was für ein unnötiges Säbelrasseln: Hätte Deutschland England im Imperialismus nicht herausgefordert, England wäre im Ersten Weltkrieg neutral geblieben, hätte als Schiedsrichter dafür gesorgt, dass Frankreich und Russland, die allein von Deutschland geschlagen worden wären, nicht zu sehr geschädigt werden. Die USA wären nie in den Krieg eingetreten, nach ein paar Monaten und nur Zehntausenden von Toten statt neun Millionen wäre alles vorbei gewesen. Aber so entladen sich die darwinistischen Vorstellungen im Stahlgewitter, gehen in Europa ein halbes Jahrhundert lang die Lichter aus. England schneidet Deutschland per Seeblockade von Rohstoffen und Lebensmitteln ab. Im Hungerwinter 1916/17 sterben Tausende Zivilisten. Jeder friert, weil in den Bergwerken zuwenig Männer Kohle fördern, und was sie fördern, verfeuert die Reichsbahn für den Truppentransport. Selbst Grundnahrungsmittel gibt es nur noch gegen Bezugsschein, das Leben wird noch ungleicher als im Kaiserreich.
Eigentlich müsste dieser Krieg gleich vorbei sein: Durch die Seeblockade kommt aus Chile kein Salpeter mehr ins Deutsche Reich, das die Deutschen brauchen, um daraus Dünger, vor allem aber Sprengstoff, herzustellen. Dank ihres Vorsprungs im damaligen Strukturzyklus gelingt es ihnen aber, durch das Haber-Bosch-Verfahren den Luftstickstoff zu nutzen. Deutsche Chemiker stellen Kautschuk synthetisch aus Kohle her oder züchten Nährhefe als Zusatz für Lebensmittel, Metallurgen entwickeln Legierungen mit weniger Kupfer für die Elektroindustrie – kurz: Was ihnen fehlt, können die Deutschen oft technologisch ausgleichen. Umgekehrt ist die französische Chemieindustrie massiv von deutschen Chemie-Importen abhängig. Kriegsführung wird ein wirtschaftlicher Wettlauf darum, wer seine Produktion schneller ausweiten kann. Ohne den Kriegseintritt der USA mit ihrem Industriepotenzial hätte das Deutsche Reich den Krieg gewinnen können (und wir lägen, um Erich Kästners Gedicht »Wenn wir den Krieg gewonnen hätten« von 1931 zu zitieren, noch heute mit der Hand an der Hosennaht im Bett).
Damit beschleunigt der Krieg das Tempo, mit dem dieser Strukturzyklus erschlossen wird: Alle Volkswirtschaften bauen ungeheure Produktionskapazitäten in der Chemie und in der Schwerindustrie auf, investieren in arbeitssparende Maschinen, treiben die Elektrifizierung der Fabriken voran. Materialschlachten verschlingen nie da gewesene Güterberge. Moderne Industrien tauchen plötzlich neu in bisher ländlichen Gebieten auf. Die besser zahlende Rüstungsindustrie zieht Menschen aus den Dörfern in die Städte, wo sie auch nach dem Krieg bleiben. Millionen von Frauen jeden Alters und fast aller Schichten ersetzen die Männer in den Fabriken und öffentlichen Stellen (das bringt ihnen dann 1919 in der Weimarer Republik die formale Gleichberechtigung und endlich das Recht, wählen zu dürfen). Hochbetagte in Altersheimen erinnern sich heute an das Vorhängeschloss, das sie damals an der Brotdose der Mutter fanden. Der Weltkrieg am Höhepunkt des dritten Aufschwungs beendet die Jahre, in denen auch die ärmere Mehrheit ihr Leben verbessern kann.
Warum er zu Ende geht und warum es auch ohne Krieg zu einer – wenn auch nicht ganz so schweren – Weltwirtschaftskrise gekommen wäre, zeigt die lange S-Kurve, in deren Form die Basisinnovation verläuft: Um 1920 sind die meisten amerikanischen Fabriken elektrifiziert (s. Grafik). Das technologische Netz, das die Produktivitätsfortschritte der vergangenen 30 Jahre geschaffen hat, kommt seiner maximalen Ausdehnung nahe. Seine Wachstumsraten werden zu gering, um noch die ganze Wirtschaft zu tragen. Damit sinken Preise, Gewinne und Löhne. In den Privathaushalten wie in den Firmen bleibt weniger Geld übrig – der Rückwärtsgang des dritten Kondratieffs wirkt mächtiger, als der nächste Strukturzyklus schon Beschäftigung aufbauen kann.
Als Nikolai Kondratieff seine Aufsätze Anfang der 1920er Jahre veröffentlicht, schaut er realistisch zurück auf einen vergangenen Auf- und einen bevorstehenden langen Abschwung. Ob es danach wieder einen neuen Aufschwung gebe, sei jedoch nicht zwangsläufig. »Wenn ein neuer Zyklus beginnt, stellt er keine exakte Wiederholung der vorhergehenden dar, denn die Volkswirtschaft hat bereits eine neue Stufe erklommen. Der Mechanismus bleibt jedoch im neuen Zyklus im wesentlichen derselbe.«57 Wenn das, was er da entwickelt habe, richtig sei, schreibt er am Ende des Aufsatzes über die Preisdynamik, dann seien »die Quellen des in der Weltwirtschaft … herrschenden Depressionszustandes noch keinesfalls ausgeschöpft«. Wie Recht er hatte, sollte sich im folgenden Jahrzehnt zeigen.
3. Kondratieffabschwung Die schlimmste Wirtschaftskrise unserer Erinnerung
Keine Weltwirtschaftskrise ist so stark im kollektiven Gedächtnis wie die ab 1929. Selbst Jahrzehnte danach »sind sich die Experten noch immer nicht darüber einig, worin die Ursachen der Depression lagen«, schreibt der Wirtschaftshistoriker Rondo Cameron58, immerhin Herausgeber des »Journal of Economic History«. Was die etablierte Wirtschaftswissenschaft dafür an Gründen diskutiert – Kriegsfolgen, Deflation, Agrarkrise, weltweiter Protektionismus und Verteilungskämpfe zwischen Arbeitern und Unternehmern – hat die große Weltwirtschaftskrise aber nicht ausgelöst. Das sind lediglich Symptome und Folgen eines erschöpften Kondratieffzyklus. Auch die Siegerpolitik beschleunigt die Depression nur, besonders in Deutschland.
Wieso soll auch ein Weltkrieg einmal für eine Depression und ein anderes Mal, nach 1945, für ein Wirtschaftswunder verantwortlich sein? Und auch der große Börsenkrach im Oktober 1929 hat keine Krise ausgelöst, sondern nur die schon bestehende weiter verstärkt – schon lange vorher, Mitte 1927, produziert die Industrie in gedrosseltem Tempo. Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass die 20er Jahre nur »golden« sind, wenn man sie aus der Sicht der