Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler
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Der viel jüngere Rathenau setzt auf moderne Produkte und auf Marketing: Er rüstet das Münchner Residenztheater mit den von Siemens ignorierten Edison-Glühlampen aus – um so Bedarf zu wecken. Seine Geschichte macht uns heute Mut, weil sie zeigt, dass man sich während des langen Abschwungs anstrengen muss, um den neuen Aufschwung zu ermöglichen. Emil Rathenau steigt als junger Konstrukteur bei einer Maschinenbaufirma ein, die im Gründerboom in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wird. Er ist clever genug, seine Aktien vor dem Börsencrash zu verkaufen, zieht sich 35jährig mit einer dreiviertel Million Reichsmark ins Privatleben zurück und beobachtet die nächsten zehn Jahre, wie sich Technik und Wirtschaft verändern. Auf der Weltausstellung 1881 in Paris begegnet er Thomas Alva Edison, der seine Kohlefadenlampe vorführt. Rathenau setzt sich unter windigen Konkurrenten durch und erwirbt die alleinige Lizenz zur Produktion der elektrischen Glühlampe – auch er glaubt nicht an eine unvorhersagbare Zukunft, sondern weiß, dass die Elektrifizierung kommt.
Weil aber in der Wirtschaftskrise der 1880er Jahre dafür kein Kredit zu bekommen ist, gründet Rathenau eine Studiengesellschaft. Das erfordert kaum Geld, bringt ihm aber Luft, um Erfahrungen zu sammeln, und Zeit, die Werbetrommel zu rühren. Mit Bankern gründet er 1883 die Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektrizität AG und ändert 1887 den Firmennamen in Allgemeine Elektrizitäts-Aktiengesellschaft. In wenigen Jahren setzt sich das elektrische System in der Wirtschaft durch.
Es verändert die Art, wie sich Unternehmen organisieren. Die Verwaltung in den Unternehmen wächst. Dieses Paradigma kann Deutschland viel besser umsetzen als andere Länder – weil der preußische Staat schon lange vor der Wirtschaft seine Bürokratie perfektioniert hat. In Deutschland ist das Vertrauen in Institutionen einfach größer – also auch in ein neu errichtetes Management. Aus den USA schwappt die Managementphilosophie des Unternehmensberaters Frederick Taylor über den großen Teich. Er lehrt hohe Spezialisierung in der Massenfertigung. In den kleinen Firmen haben sich die ausgebildeten Facharbeiter bisher mit der Geschäftsleitung identifiziert; jetzt übernimmt eine Managerbürokratie die Macht im Massenbetrieb mit Zehntausenden von Arbeitern. Der Taylorismus verlagert die Gestaltungsmacht weg von der operativen Ebene hoch in die Büros (das ist genau die Entwicklung, die jetzt im Übergang vom fünften in den sechsten Kondratieff wieder rückgängig gemacht wird). Mit der Elektrobranche bekommt der 1856 gegründete Verein Deutscher Ingenieure (VDI) Gewicht: Der VDI diskutiert theoretische Probleme, gibt praktische Erfahrungen weiter und setzt Normen.
Das neue technologische System spaltet die Unternehmerschaft – nach heutigen Begriffen in »old« und »new economy«: Die einen sehen sich in ihrer Firma autoritär-patriarchalisch als »Herr-im-Haus« und fordern vom Staat, Gewerkschaften zu unterdrücken. Zu ihnen gehören die Unternehmer der hoch kartellierten Schwerindustrie an Rhein und Ruhr (der beiden ersten Kondratieffs), die sich schon 1876 im »Centralverband Deutscher Industrieller« (CDI) zusammengeschlossen haben. Die jüngste, kapitalintensivere new economy des dritten Kondratieffs dagegen – Elektroindustrie, Chemie, also AEG, Siemens, IG Farben – gründet 1895 den »Bund der Industriellen« (BDI), der die neue Mittelschicht der Angestellten und »national« gesinnte Arbeiterverbände in den Staat integrieren will. Beide verschmelzen 1919 zum Reichsverband der Deutschen Industrie RDI, dem heutigen Bundesverband der Deutschen Industrie BDI.
Alle profitieren vom Elektroaufschwung nach 1890: Der Lebensstandard steigt. Facharbeiter können es sich als Erste leisten, keine Schlafstellen mehr an ärmere Arbeiter zu vermieten. Der Wohlstand erlaubt auch zunehmend schärfere Kinderschutzgesetze – und macht Kinderarbeit unrentabel. Damit hören Kinder mit dem dritten Kondratieff auf, wirtschaftliche Aktiva zu sein, was die Geburtenrate verändert und die Familienrollen. Kinder bekommen ab jetzt ihr eigenes Bett –»wie bei Kaisers«. Innenpolitisch wird die SPD in der Zeit des starken Wirtschaftswachstums zur stärksten politischen Kraft. Die Jugend rebelliert in der Jugendbewegung (ähnlich wie ihre Enkel bzw. Urenkel um 1970), der Jugendstil will anders sein und sich vom Historismus aus der Zeit des Abschwungs des zweiten Kondratieffs distanzieren. Die feineren Kreise sprechen von der Belle Époque.
Den sprunghaft steigenden Wohlstand investiert Deutschland nicht nur in Infrastruktur und technische Entwicklung, sondern auch in Menschen: Seine Bevölkerung steigt im dritten Kondratieffaufschwung von 49 Millionen im Jahr 1890 auf 66 Millionen bis zum Ersten Weltkrieg. Aber nicht allein die bloße Zahl der Köpfe, sondern die verhältnismäßig hohe Bildungsinvestition lässt Deutschland so prosperieren. Die für das boomende technologische Netz notwendigen Schultypen – Oberrealschulen, Polytechnikschulen und Technische Universitäten – gedeihen in Deutschland. In der Pisa-Studie zum Bildungsniveau hätte Deutschland vor 100 Jahren alle anderen Länder in den Schatten gestellt. Die amerikanischen »Institutes of Technology« sind den deutschen Technischen Universitäten vergleichbar.
Im Ersten Weltkrieg sind deutsche Truppen auch deswegen so effizient, weil die Grundschulbildung der Soldaten weit besser ist als in anderen europäischen Ländern (auch wenn man anmerken muss, dass sich ein großer Teil der hohen Bildungsinvestitionen wegen des vorzeitigen Heldentodes fast zweier Millionen deutscher Männer nie mehr hat amortisieren können): Während in Italien 330 von 1000 Rekruten nicht lesen können, in Österreich-Ungarn 220 von 1000 Rekruten Analphabeten sind und in Frankreich 68 von 1000, ist es in Deutschland nur einer von 1000 – kein Wunder, dass es den Deutschen besser gelingt, für den wachsenden Bedarf des dritten Kondratieffs mehr Laboranten auszubilden, Elektriker zu schulen oder Wissen über Düngemittel schriftlich an Bauern weiterzugeben. (Deutschland hat wegen seiner Chemieindustrie damals die höchsten Hektarerträge.)54
Warum so viele den Kriegsausbruch bejubeln
Damit wird das neue technologische Netz von unterschiedlichen Gesellschaften wieder unterschiedlich gut aufgenommen und umgesetzt. Wieder wächst das Produktionspotenzial in den Ländern unterschiedlich schnell. Wieder verschieben sich die wirtschaftlichen Machtgewichte, wieder mischt ein neuer Kondratieff die internationale Politik auf: 1870 produzieren die Deutschen erst ein Fünftel des britischen Eisenausstoßes, 1890 immerhin schon die Hälfte. 1910 haben die Deutschen mit 13 Millionen Tonnen die 10 Millionen Tonnen britischen Eisens überholt. Im selben Jahr gießen die Deutschen sogar doppelt so viel Stahl wie Großbritannien.
Gegenüber Frankreich ist der deutsche Machtzuwachs im dritten Kondratieff noch größer: 1880 hat Frankreich mit 25,1 Prozent des britischen Industriepotenzials des Jahres 1900 ein fast ebenso großes Gewicht wie Deutschland mit 27,4 Prozent.55 Weil sie die Basisinnovationen um Strom und Stahl aber besser beherrschen, verfünffachen die Deutschen ihr Industriepotenzial bis zum Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf 137,7 Prozent, die Franzosen können es nur wenig mehr als verdoppeln und kommen 1913 auf 57,3 Prozent der britischen Produktion des Jahres 1900. Die deutsche Kohleförderung steigt von 89 Millionen Tonnen im Jahr 1890 auf 277 Millionen Tonnen bis zum Ersten Weltkrieg – das ist fast so viel wie die britische Kohleförderung und mehr als doppelt so viel wie die französische, österreichisch-ungarische und russische Kohleförderung zusammen.
Die europäische Elektroindustrie wird von Siemens und AEG beherrscht. Deutsche Chemiekonzerne, angeführt von Bayer und Höchst, stellen 90 Prozent (!) der weltweiten industriellen Farbstoffe her. Deutschlands viel zitierte Kapitalschwäche hängt vor allem damit zusammen, dass Kapital von den Investitionen in Maschinen und Menschen schneller aufgesogen wird, als es erwirtschaftet werden kann. Zwischen 1903 und 1913 investieren die Deutschen 15,3 Prozent ihres Bruttosozialproduktes – das ist ein Spitzenwert, den sie vorher nicht erreicht haben und danach erst wieder im vierten Kondratieffaufschwung erreichen werden. Gemessen am Anteil an der Weltindustrieproduktion, erreicht Deutschland mit 14,8 Prozent 1913 seinen relativen Höhepunkt; Großbritannien steigt seit 1880 von 22,9 Prozent auf 13,6 Prozent der Weltindustrieproduktion ab, Frankreich von 7,8 auf 6,1 Prozent – am meisten nimmt der schlafende Riese USA zu, von 14,7 auf 32 Prozent der Weltindustrieproduktion.56
Warum sich die britische Produktivität verlangsamt, ist eines der bestuntersuchten