Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 34/35. Группа авторов

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Grenzen zunächst in der geschichtlichen Lage. […] Wo liegen nun aber die Grenzen der jeweiligen geschichtlichen Lage selbst? Und ist die Welt auch für alles in einer konkreten geschichtlichen Lage gegenwärtige Dasein ›dieselbe‹? Offenbar nicht. Nicht nur die Bedeutungswelt der einzelnen gleichzeitigen Kulturkreise ist verschieden, auch innerhalb eines solchen Kreises klaffen noch Abgründe des Sinnes zwischen den Welten. Gerade in dem existenzial wesentlichen Verhalten gibt es z. B. kein Verstehen zwischen der Welt des modernen Bürgers des Hochkapitalismus und der des Kleinbauern oder Proletariers. – Hier stößt die Untersuchung notwendig auf die Fragen der materialen Konstitution der Geschichtlichkeit, einen Durchbruch, den Heidegger nirgends vollzieht oder auch nur andeutet.«9

      Gerichtet gegen Heideggers pseudo-konkreten Begriff von Geschichtlichkeit spricht sich Marcuse dann für eine konkrete Philosophie aus. Ihre Aufgabe sei es, eine Auffassung von Geschichtlichkeit zu gewinnen, die sich ihre kollektive Bedeutung und ihren materiellen Bestand aktiv aneigne:

      »Die konkrete Philosophie kann also an die Existenz nur herankommen, wenn sie das Dasein in der Sphäre aufsucht, aus der heraus es existiert: im Handeln in seiner Welt gemäß seiner geschichtlichen Situation. Im Geschichtlichwerden kommt die konkrete Philosophie, indem sie das wirkliche Schicksal des Daseins auf sich nimmt, zum Öffentlichwerden. […] Daß die Philosophie mit einem konkreten Dasein in der Gleichzeitigkeit steht, heißt, daß die Philosophie sich um die ganz konkreten Kämpfe und Nöte dieses Daseins zu kümmern hat, daß sie ›dieselbe‹ Sorge um sein so und nicht anders existierendes Leben zu tragen hat.«10

      II. Begriffe und Geschichtlichkeit

      Diese Kritik an Heidegger und das Plädoyer für eine andere historisierte Philosophie impliziert beim jungen Marcuse allerdings nicht den Verzicht auf eine Ontologie der Geschichtlichkeit.11 Das wird in mehreren Stellen seines Frühwerks aus den Jahren 1928-1933 deutlich.12 Für unser Thema ist Marcuses Auseinandersetzung mit Hans Freyers Buch Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft im Jahr 1931 besonders interessant. Hier können wir eine Kritik an Freyers Theorie der Begriffe finden, die meiner Meinung nach auch Reinhart Kosellecks Auffassung der Kategorien der Historik als transzendentale Theorie der Geschichte betrifft.13 Nach Marcuse ist Freyers Absicht »die ›philosophische Grundlegung‹ eines ›Systems der Soziologie‹«14, aber statt eine phänomenologische (das heißt für Marcuse in dieser Zeit: eigentlich philosophische) Analyse der Gegebenheit ihres Gegenstandes zu unternehmen, bleibe Freyer entgegen seiner ausdrücklichen Absichten auf einer erkenntnistheoretischen Ebene. Da es sich bei Freyers Entwurf um ein konkretes System der Soziologie handele, spreche er sich selbst aus »gegen alle abstrakte, formale Soziologie, die die Geschichtlichkeit der sozialen Gebilde und Strukturen verkennt«15. Freyer finde etwa die Versuche, ein System von Begriffen durch eine trans-zendentale Reflexion auszuarbeiten, unfruchtbar, weil ihre Ergebnisse vollkommen abstrakt und formal wären. Deswegen bleibe für Freyer nur ein einziger Weg offen: die Bildung der Begriffe für sein System der Soziologie aus der gewesenen Geschichte heraus. Er bilde seine Begriffe durch das Aufgreifen der »typischen Grundstrukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus der Geschichte«.16 So mache sich Freyers philosophische Grundlegung der Soziologie »an den bisher vorhandenen geschichtlichen sozialen Gebilden als ›typischen‹«17 fest. Freyer entnimmt nach Marcuse also seine Begriffe durch eine Art von Verallgemeinerung der geschehenen Geschichte. Das habe Auswirkungen auf sein System der Soziologie, wie wir später weiter im Lichte von Marcuses Kritik sehen werden.

      Zuvor betrachten wir jedoch die Auffassung der von Marcuse bei Freyer kritisierten Begriffe im Kontext von Reinhart Kosellecks Historik. Hier gibt es meiner Meinung nach Ähnlichkeiten mit Freyers Position. Gewiss wollte Koselleck – anders als Freyer – mit seiner Historik eine transzendentale Theorie der Geschichte entwickeln: eine Theorie der »transzendentalen Bedingungen möglicher Geschichten«18. Er beanspruchte Heideggers ontologische Analyse des Daseins auf der Ebene der wirklichen Geschichte zu verbreiten. Eine zentrale Aufgabe der Historik ist die Bildung der transzendentalen Begriffe, die die Bedingungsmöglichkeiten aller möglichen Geschichte ausmachen sollen. Solche Begriffe sollen die Grenze des Erkennbaren und Machbaren in der Geschichte ziehen. Eigentlich wäre es Aufgabe einer transzendentalen Reflexion, diese Begriffe herzustellen. Aber wenn wir die von Koselleck vorgeschlagene Reihe von Begriffen genauer betrachten, stellen sich Zweifel gegenüber ihrem Entstehungsprozess und ihrem Status ein. Nach Koselleck bestehen diese aus folgenden Kategorienpaaren: »Sterbenmüssen-Tötenkönnen«, »Freund-Feind«, »Innen-Außen«, »Herr-Knecht« und der Kategorie der »Generativität«, die die »zwangsläufige Abfolge von Generationen« bedinge.19 Meiner Meinung nach kann eine solche Begriffsreihe – und das gilt vor allem für die Begriffspaare »Herr-Knecht« und »Freund-Feind« – nicht als eine transzendentale Bedingung möglicher Geschichte wirken. Denn wenn es auch der Fall wäre, dass in der geschehenen Geschichte die Wirklichkeiten, auf die diese Begriffe verweisen, allgegenwärtig wären, dann hätten wir doch keinesfalls die Möglichkeit, dasselbe über die noch vor uns liegende Geschichte zu sagen. Diese Begriffe können daher nicht als formal-transzendental angesehen werden, sie sind vielmehr imprägniert von Faktizität: der Faktizität der gewesenen Geschichte. Im eigentlichen Sinne sind damit also auch Kosellecks Begriffe der Historik nicht transzendental; auch sie sind aus einer Art Verallgemeinerung bestimmter geschichtlicher Phänomen gebildet. So projizieren sie das Gewesene auf das Zukünftige als seinen nur vermeintlichen Möglichkeitshorizont, während sie die wirklichen Möglichkeiten dadurch verstellen.

      Kehren wir zurück zu Marcuses Kritik an Freyers Auffassung der Begriffe; wir finden dort auch die Gründe für eine weitere Kritik der koselleckschen Historik. Denn nach Marcuse liegt das Problem von Freyers Vorstellung der Begriffe gerade in der These, dass sich die Bildung der Begriffe aus dem Stoff der bisherigen Geschichte vollziehe. Das hat für Marcuse die Unfähigkeit, mit solchen Begriffe das Neue zu ergreifen, zur Folge. Solange diese Begriffe auf der Basis des Gewesenen gebildet werden, müsse Freyers System der Soziologie gewärtig sein, dass irgendwann ein neues geschichtliches Gebilde entstehe, das durch keine der bisherigen Begriffe verstanden werden könne und »also den immanent-sachlichen Zusammenhang des Systems zerreißt, das System aufhebt.«20 Meiner Ansicht nach kann diese Kritik nun auch wieder Kosellecks Theorie der Historik treffen. Denn ihre aus der Faktizität der geschehenen Geschichte gebildeten Begriffe grenzen auf eine ebenso beschränkende Weise – als vermeintliche Möglichkeitsbedingungen aller möglichen Geschichten – die Erfahrung und die Vorstellung der noch vor uns liegenden Geschichte auf unzulässige Weise ein. Damit werden letzten Endes auch die geschichtlichen Möglichkeiten reduziert, so dass die Vorstellung und das Schaffen von etwas geschichtlich Neuem verunmöglicht werden. Das problematische Fazit auch aus Kosellecks Historik wäre eine Beschränkung unserer Erfahrung möglicher Geschichten nach dem Muster des Gewesenen, d. h. eine Verengung unseres Erwartungshorizontes. Eine solche Fassung der transzendentalen Kategorien der Geschichte macht es schwer, unsere Rolle als erkennende und vor allem als geschichtlich handelnde Menschen zu verstehen.

      III. Eine ontologische Phänomenologie des geschichtlichen Lebens?

      Worin besteht nun der theoretische Vorschlag von Marcuse gegenüber einer so defizitären Auffassung der Begriffe und der Geschichte bei Freyer – und meines Erachtens auch bei Koselleck? Nach Marcuse scheitert Freyers Anspruch, ein System der Soziologie herauszuarbeiten, aufgrund eines Mangels an philosophischer Reflexion über die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit als ihr Gegenstandsgebiet. Das wäre letztlich die Ursache dieser problematischen Begriffskonstruktion. Marcuse spricht sich für eine erweiterte philosophische Reflexion aus, in welcher er vielmehr die Aufgabe der Philosophie erblickt. In seiner Kritik an der Soziologie als nur scheinbar neutraler und reiner Wissenschaft macht sich Marcuse für die Rolle der Philosophie stark, die das Fundament der Soziologie zu sichern habe:

      »Die Kritik der ›reinen‹ Soziologie bedarf aber nun wieder eines Bodens, von dem aus sie das in Frage stellen kann, was die Soziologie über das gesellschaftliche Sein ausmachen will und kann; ein Boden der in Wahrheit ›grundlegend‹ sein muß, also nicht mehr Standpunkt gegen Standpunkt stellt, sondern die ursprüngliche Möglichkeit

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