Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 34/35. Группа авторов

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Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 34/35 - Группа авторов

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»Die Revolutionen bedürfen nämlich eines passiven Elementes, einer materiellen Grundlage. Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist.«16 Im ›Gedanken‹ erhält die ›Prozess-Materie‹ nur das Bewusstsein ihrer eigenen Bewegung, das heißt von sich selbst. Dies gilt auch für die Moral. Wird diese nicht auf ihre Materialität, das heißt auf ihre Bedürfnisgeschichte hin analysiert und reduziert, tritt die ideologische Form bürgerlicher Sittsamkeit nie als eine solche ins Licht kritischer Erkenntnis; die moralische Zweideutigkeit des bourgeoisen Milieus würde weiter ihre uneingeschränkte Kultivierung auf Kosten anderer erfahren. Der prüfenden Frage à quoi bon? hat auch sie sich zu stellen. Das Wissen um den doppelten Boden jeder Ethik ist die unmittelbare Folge der Aufdeckung ihres materiellen Wesens. Eine Einsicht, zu welcher auf anderen Wegen auch Freud gelangt ist.

      Die duplizitäre Struktur der Moral verdankt sich der irrtümlichen Annahme der Vorrangigkeit des Denkens gegenüber dem Sein, der Vernunft gegenüber den Trieben. Religiöse Vorstellungen tragen ihr Übriges bei. Der Bruch mit der Metaphysik erhält für Marx deshalb Priorität. Philosophie wünscht er sich ›aufgehoben‹, als Übergang in kritische Theorie von Gesellschaft.

      »Aufhebung der Philosophie ist Aufhebung der Metaphysik, negativ die Entontologisierung und Enttheologisierung, positiv die Historisierung und Humanisierung der Philosophie. An die Stelle der ontotheologischen Verfassung der Philosophie tritt der praktisch-historisch begründete Humanismus in der Philosophie.«17

      Die uralte onto-theologische Scheidung der Welt in Gutes, Ideales, Tugendhaftes auf der einen und Malignes, Materielles, Sündhaftes auf der anderen Seite, kurz: die Teilung des Bestehenden in Geist und Fleisch, trieb das Individuum über Jahrtausende in eine psychotische Verfasstheit und Fremdbestimmung. Diesen Zustand der Nicht-Identität von Subjekt und Objekt, des Psychischen mit seiner Außenwelt, aufzulösen und den Menschen zu sich selbst als ›Gattungswesen‹ zu befreien, stellt Marx sich als vornehmste Aufgabe. Eine, welcher an ›radikaler‹ Entschlossenheit es nicht mangelt:

      »Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. […] Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzustürzen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist […].«18

      Konsequenter Materialismus spricht hier, dialektisch wie historisch. Keine positive Moral wird konstruiert, Kritik stattdessen postuliert. Bestimmte Negation jedoch enthält das Ferment des Positiven. Ihr erwächst der Mut zur Veränderung, zum Umsturz des ›schlecht Vorhandenen‹. Wie die Bewegung der Materie, kann auch Moral nur aus Bedürfnis entstehen. Aller Sittlichkeit inhäriert eine zutiefst materielle Dynamik. Marx identifiziert sie als gesellschaftlichen Auftrag.

      Was heute, nach westlich-kapitalistischer Ordnung, unter Wirtschaftsethik zu verstehen ist, nämlich Triebverzicht – weniger als Forderung an die Lohnabhängigen, denn als Praxis und Rapport herrschender Klassen –, kompromittierte jener mit analytischer Schärfe, wenn er im Kapital konstatiert:

      »Um das Gold als Geld festzuhalten und daher als Element der Schatzbildung, muß es verhindert werden zu zirkulieren oder als Kaufmittel sich in Genußmittel aufzulösen. Der Schatzbildner opfert daher dem Goldfetisch seine Fleischeslust. Er macht Ernst mit dem Evangelium der Entsagung. Andrerseits kann er der Zirkulation nur in Geld entziehn, was er ihr in Ware gibt. Je mehr er produziert, desto mehr kann er verkaufen. Arbeitsamkeit, Sparsamkeit und Geiz bilden daher seine Kardinaltugenden, viel verkaufen, wenig kaufen, die Summe seiner politischen Ökonomie.«19

      Nirgends sonst ist die Ambiguität bürgerlich-ökonomischer Moral, ihre unselige Herkunft wie Legitimierung aus der Religion, in solcher Klarheit vorgeführt – Marx’ bleibender Verdienst.

      Soziale Kontrasterfahrungen dürfen gemacht und artikuliert werden, ohne dem begriffenen Negativen ein bestimmtes Positivum entgegenbringen zu müssen. Die Utopie hat nicht »ausgepinselt« (Bloch) zu sein, realisiert sie sich doch von allein, sobald der ›Umschlagsmoment‹ bewusst wahrgenommen ist. Ethik kann nach Marx nicht anders verstanden werden, denn als Selbstbefreiung des Subjekts von unbegriffenen Mächten. An die Stelle des von oben verordneten politischen Status quo tritt die Selbstvergesellschaftung des Menschen von unten, die Nostrifizierung des Öffentlich-Allgemeinen durch das Proletariat:

      »Die Betroffenen nehmen das sie Betreffende selbst in die eigne Hand. Die Aufhebung der Moral ins Vergesellschaftungshandeln, wie sie Marx und Engels vorschwebte, rückt Fragen nach dem Wie, nach dem neuen Umgang mit Konflikten, Unterschieden, auch nach der Un/Annehmbarkeit von Mitteln zu erwünschten Zwecken ins Zentrum.«20

      Marxistische Moral steht philosophiegeschichtlich in einer postdestruktiv-antizipierenden Phase zwischen nicht mehr und noch nicht: Nach der Dekonstruktion und Aufhebung überkommener metaphysischer Werte hat sie eine neue Form von Sittlichkeit zu begründen, welche dem Prinzip der Selbstvergesellschaftung gerecht zu werden hat. Sie sieht sich mit dem Dilemma der gleichzeitigen Unmöglichkeit und Nötigkeit normativer Ethik konfrontiert. Diese Dialektik, ohne Aussicht auf Synthese, hat sie theoretisch wie praktisch zu durchstehen.

      Jene von Rousseau beklagte (und von Hegel rezipierte) Zerteilung des Bürgers in eine existence partielle et morale, in einen homme et citoyen harrt seitdem ihrer Vereinigung. Die Hauptlast im Marx’schen Erbe besteht im Versuch seiner politischen Umsetzung. Affektion und Abstraktion verweilen in hartnäckiger Diskordanz. Durch seine Unausgeglichenheit wandelt das Theorie-Praxis-Verhältnis sich zur Mesalliance. Unaufgearbeitetes bricht hervor und irritiert die Vernunft-Harmonie. Das Partielle, Sinnliche, die Qualia sind es, welche immerzu und aufs Neue Aufmerksamkeit verlangen. Wie versehentlich wird aus dem zum Partikularen gedrängten Ganzen wieder ein zum Totalen gefügter Einzelner. Unbehagen überfällt den zur Einheit Genötigten. Die Sprache absoluter Verständigung vermag auch Marx nicht zu leihen. Eine Hypothek, an welcher die Sowjetgesellschaft sich abmühte.

      Noch einmal: Der Marxismus fühlt sich dem Hegel’schen Identitätsprinzip verpflichtet; jedoch in der umgekehrten Folge seiner Elemente: Die Verhältnisse haben sich dem Individuum anzugleichen. Im Zentrum steht der einzelne Mensch und die von ihm sinnlich wahrgenommene Lebenswelt. Er wird zum Maßstab seiner Gattung. Das Ganze bildet die notwendige Peripherie: seine Umstände, im Wortsinn. Sie haben ihn aufzufangen. Einmal initiiert, steht diese Tendenz nicht mehr zur Disposition. Die Materie, im Einzelmenschen erscheinend, offenbart sich als anweisende: kritischer Materialismus. Marx schreibt:

      »Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person.«21

      Das staatliche Gemeinwesen hat die bürgerliche Gesellschaft, aus Individuen bestehend, in ihren privaten Vorlieben und Interessen als ›Naturbasis‹ zu akzeptieren. An ihr haben die öffentlichen Entscheidungen je sich zu orientieren. Im Gegensatz zu Hegel hat die politische Totalisierung von unten nach oben zu geschehen. Es ist die aufsteigende Bewegung, geronnen in der ›Tathandlung‹ von Ich und Wir, von Ich als Wir, welcher die Hoffnung auf Umsturz innewohnt. Die emanzipative Wandlung des Menschen zum Gattungswesen verspricht die Zusammenschau seiner Gegensätze. Dem Willen zur Veränderung entspricht der Wunsch nach der Identität dessen, welches sie verweigert.

      3. Sowjet-Marxismus

      Sowohl das vernünftig-ideale,

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