Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 34/35. Группа авторов
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Marcuse verteidigt hier zunächst die Rolle der Philosophie als Phänomenologie im heideggerschen Sinne einer Fundamentalontologie.22 In seinem ersten Aufsatz schlägt Marcuse eine Synthese zwischen Phänomenologie und Dialektik als der einzigen Methode vor, die »der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins gerecht zu werden [vermag].«23 Eine solche Synthese bezeichnet er als »dialektische Phänomenologie«: »Sie geht zunächst auf die ihrem Sein nach geschichtliche menschliche Existenz, und zwar sowohl in ihrer Wesensstruktur als in ihren konkreten Formen und Gestaltungen.«24 Die dialektische Phänomenologie also betrachtet die Geschichtlichkeit des Daseins sowohl auf der Ebene ihrer Grundstrukturen, das heißt sowohl auf ihre ontologische Dimension als auch auf der Ebene ihrer konkreten Verwirklichungen, ihre ontische Dimension hin. Der junge Marcuse will beides beibehalten: Marx’ geschichtliche Konkretion und Heideggers ontologischen Anspruch.
In seiner Auseinandersetzung mit Freyer behauptet Marcuse, dass nur eine »Analyse des menschlichen Lebens als geschichtliches«25 in der Lage ist, die Grundstrukturen der Geschichtlichkeit herauszustellen und die angemessene philosophische Grundlegung für ein System der Soziologie oder eine Theorie der Gesellschaft zu geben. Aber diese phänomenologische Grundlegung gebe uns zugleich eine neue Vorstellung davon, was philosophische Begriffe eigentlich seien:
»Die Grundcharaktere der Geschichtlichkeit liegen (ontologisch) vor jeder bestimmten geschichtlichen Sozialstruktur; sie müssen sich herausstellen lassen, ohne daß sie zu abstrakten und formalen Kategorien umgedeutet werden. Phänomene wie Herrschaft und Knechtschaft, Bewährung und Vergegenständlichung, Arbeit und Bildung, Selbst-transzendenz und Revolution sind solche Grundweisen des Seins des geschichtlichen Lebens«26.
Wie sind nun nach Marcuse solche Grundweisen des Seins des geschichtlichen Lebens zu verstehen? Mit Heidegger könne man, wie er fortfährt, sagen, dass solche Grundstrukturen des geschichtlichen Lebens dessen Grundmöglichkeiten seien:
»Die Strukturen des Daseins, die Zeitlichkeit selbst, sind nicht so etwas wie ein ständig verfügbares Gerüst für ein mögliches Vorhandenes, sondern sie sind ihrem eigensten Sinn nach Möglichkeiten des Daseins zu sein, und nur das.«27
Die Phänomenologie als Fundamentalontologie ist also auch für Marcuse der dem Sein des geschichtlichen Lebens geeignete Zugang und daher in der Lage, alle möglichen Gebilde und Phänomene des geschichtlichen Lebens zu umfassen. Im Unterschied zur beschränkenden Auffassung der Begriffe bei Freyer (und Koselleck) könne sie eine vollständige Herausarbeitung der Grundkategorien oder -begriffe des geschichtlichen Lebens liefern, die alle Phänomene, sogar diejenigen, für die es noch keinen geschichtlichen Präzedenzfall gebe, umfassen. Nach Marcuse gibt sie die eigentliche philosophische Grundlegung für die Wissenschaften und Theorien ab, die sich mit der geschichtlichen Wirklichkeit beschäftigen. Im Unterschied zu Heidegger hat die Fundamentalontologie bei Marcuse nun aber nicht etwa das individuelle Dasein als Gegenstandsgebiet, sondern das gesellschaftliche Dasein, die gegenwärtige Gesellschaft in ihrer gesamten sozial-politischen Problematik. Die Fundamentalontologie wird damit bei Marcuse zu einer Sozialontologie, die das soziale Dasein zum Gegenstand nimmt:
»Dieses Dasein ist nun eben als geschichtliches ein primär veränderndes und zu veränderndes. Die Geschichtlichkeit als seine seinsmäßige Bewegtheit geschieht nicht mit ihm oder an ihm, sondern es selbst ist dieses Geschehen und ist nur dieses Geschehen. Das Dasein findet jeweils seine Situation vor, es muß sie auf sich nehmen, – aber nur um sie zu verändern. Denn diese Situation ist selbst ›Geschehen‹, sie trägt in ihr selbst die Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer Veränderung. Die Veränderung ist die eigentliche Kategorie der Geschichtlichkeit des Daseins.28
Für Marcuse ist es also das Ziel der Phänomenologie des sozialen Daseins zu zeigen, dass die Veränderung, die Umwälzung, die Revolution eine Grundmöglichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft ist. Diese Sozialontologie Marcuses will auf ontologischer Ebene belegen, dass die Veränderung der bestehenden Gesellschaft ihr als eine ihrer Grundmöglichkeiten offen steht. Marcuses Anspruch ist es, die Veränderung als ontologische Möglichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft aufzuzeigen. Auf der politischen Ebene hat dies Folgen gerade für die sozialen Kollektive, die auf eine tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft hin zu einem gerechteren Modell drängen. Der Nachweis dieser ontologischen Möglichkeit würde ihre Aneignung als reale und politische Aussichten für die kollektive Praxis erlauben.
Auch Marcuses Beschäftigung mit Hegels Lebensbegriff und dessen Idee von Geschichtlichkeit hat politisch-ontologischen Charakter. In seiner Habilitationsschrift will er zeigen, dass Hegels Idee von Geschichtlichkeit auf diesem Lebensbegriff gründet. Der Begriff wurde von Hegel mit Blick auf die Seinsweise des menschlichen Lebens konzipiert, dessen Geschehen aus dem »Bei-sich-selbst-bleiben im Anderssein«, das heißt aus der »Sichselbstgleichheit« in allen seinen Äußerungen, besteht.29 Hier glaubt Marcuse bei Hegel die Bestimmung eines Geschehens als Grundcharakter der Geschichtlichkeit gefunden zu haben. Diese innere Beziehung zwischen Leben und Geschichtlichkeit zeige die Verbindung zwischen Hegels und Diltheys Denken, und daher auch zwischen der hegelianisch-marxistischen und der hermeneutischen Tradition.30 Außerdem findet Marcuse bei Hegel (wie es, so glaubt er, auch bei Dilthey der Fall sei) einen Begriff von Geschichtlichkeit vor, der sich nicht auf die Ebene des Individuums beschränkt (wie bei Heidegger), sondern auf die Ebene des Kollektiven verweist: eine Ebene, die von der kollektiven Praxis der Erzeugung von Wirklichkeit (das »Thun Aller und Jeder«) bestimmt ist.31 Marcuse ist in diesem Moment bereits der Überzeugung, dass eine kritische Theorie der Gesellschaft ihre philosophische Grundlage nur durch eine Theorie der Geschichtlichkeit finden kann, die jede Form von Objektivismus in der Erkenntnis der Wirklichkeit und in der Wirklichkeit selbst auflöst.
IV. Zwischen Ontologie und kritischer Theorie
Was Marcuse damit gegen Freyer – und meines Erachtens immanent auch gegen Koselleck – vorbringt, wäre nur dann die Lösung für das bei ihm diagnostizierte Problem, wenn sein Vorschlag einer Fundamentalontologie des geschichtlichen Lebens überhaupt realisierbar wäre. Erlaubt nun Marcuses philosophische Position aus den Jahren 1928-1931 einen solchen Vorschlag für eine Ontologie der Geschichtlichkeit? Kann er von seinem philosophischen Ausgangspunkt aus eine phänomenologische Ontologie herausarbeiten?32
Ein Leitfaden von Marcuses frühen Schriften ist die Idee, dass die theoretische und philosophische Arbeit konkret werden müsse, um das Dasein in seiner bestimmten Not und Bedrängnis zu erreichen – so die Hauptthese des Aufsatzes Über konkrete Philosophie von 1929. Dazu müsse sich die Philosophie ihre eigene Geschichtlichkeit – und zwar ihre konkrete Geschichtlichkeit – völlig aneignen. Diese Tendenz wird bereits bei Marcuses Verarbeitung der Phänomenologie in seinem Aufsatz Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus deutlich. Dort kann man lesen:
»Phänomenologie bedeutet: Frage und Zugang von den Gegenständen selbst leiten lassen, die Gegenstände selbst voll in den Blick bringen. Die Gegenstände selbst aber stehen beim Zugriff zunächst in der Geschichtlichkeit. Diese Sphäre der Geschichtlichkeit beginnt, als konkret geschichtliche Situation, schon beim Ansatz der den Gegenstand suchenden Frage: sie umspannt die einmalige Person des Fragenden, die Richtung seiner Frage und die Weise des ersten Erscheinens des Gegenstandes.«33
Das betrifft auch die Dialektik, die damit ebenfalls konkret werden müsse: »Insoweit konkrete Dialektik die Vielspältigkeit, Gewordenheit und Grenze geschichtlicher Daseinsweisen und -formen aufweist, bedingt sie ein jeweiliges Stellungnehmen zu diesen Daseinsweisen und -formen und ihrer Wirklichkeit.«34
Nach Marcuse muss eine solche »dialektische Stellungnahme« »eine kritische sein«, denn »konkrete Dialektik als objektive, standpunktlose Wissenschaft ist ein Widersinn.«35 Ihm zufolge ist es eine wichtige Aufgabe der Philosophie, mit der Abstraktion