Götter sind auch nur Männer. Christiane Wagner

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Götter sind auch nur Männer - Christiane Wagner

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sind eine beträchtliche Gruppe von zirka 55 einsteigenden Leuten, und die Bahn ist schon gut besetzt. Rushhour eben. Die Türen öffnen sich, und ich zwänge mich mit meinen Reisetaschen in den Wagen. Dabei brauche ich ungefähr den Platz, den normalerweise eine Mutter mit zwei kleinen Kindern benötigt. Mit 34 bin ich immerhin im richtigen Alter.

      Meine Gepäck-Gedanken werden sofort von der Stimme des Zugführers jäh unterbrochen, der über seine viel zu laut eingestellten Lautsprecher eine Auskunft gibt, die in mir kein Freudenfeuer entfacht: „Die Weiterfahrt verzögert sich wegen eines Unfalls am Bahnhof um ungewisse Zeit.“

      Jetzt weiß ich wenigstens, warum mich meine Intuition so früh aus dem Haus getrieben hat. Bleib ruhig, sag ich mir. Keine Frauenzeitschrift gekauft, keine Bahn durchgelassen, du hast Zeit.

      Die zeternde Rentnerin neben mir anscheinend nicht. Sie macht sich umgehend mit einem Pulk gleichgesinnter Mitstreiter auf zum Zugführer, der selbst ahnungslos ist. „Was war’n des für a Unfoi?“, höre ich sie neugierig fragen.

      „Schade“, denke ich mir, dass wir nicht aktuelle Bilder auf dem Video-Beamer schauen können. Dieses „U-Bahn-Kino“ informiert die wartende Masse an jeder Haltestelle mit kleinen Häppchen kurioser Nachrichten und Boulevardwahnsinns.

      Da wäre doch auch Platz für die ersten Bilder vom Bahnhofunglück, für die voyeuristische Masse. Und der gute Zugführer vergießt noch nicht einmal einen Tropfen Blut in seiner Antwort. „Mei, wie schad.“

      Abgesehen davon geht es weiter, und die neugierige Alte muss schauen, dass sie sich samt ihrem Pulk wieder in die U-Bahn packt.

      Bei den nächsten Haltestellen füllen sich die Abteile so stark, dass ich Mitgefühl mit Tiertransporten bekomme.

      Die nächste Station ist zum Glück meine: Hauptbahnhof.

      Ich werde auf einer Woge flüchtender Menschen nach draußen getragen, eile im Laufschritt und mit ansteigendem Puls die Rolltreppe nach oben zur Bahnhofshalle. Dort erwarten mich schon die üblichen Freitagnachmittagsschlangen vor den Schaltern, die ich auf mindestens 15 Minuten Wartezeit einschätze.

      Jetzt kann nur noch der „Maschinenkollege“ helfen. Ich steuere entschieden auf einen freien Fahrkartenautomaten zu, auf dessen Tastenfeld schon Hunderte Reisende verzweifelt geschlagen oder herumgeschmiert haben. Und das in der Hochsaison der Grippe!

      Konzentration. Es geht los. Expresskauf und ein ruhiger Zeigefinger sind eine sichere Bank für eine 2-Minuten-Fahrkarte. Keine Reservierung, jetzt bloß nicht „electronic-cash“ mit „Geldkarte“ verwechseln, den Magnetstreifen, der sich unbedingt rechts unten befinden muss, schön gleichmäßig einführen. So.

      Die Geheimzahl eingeben – geschafft! Karte akzeptiert, im Fahrkartenfach blinkt es schon.

      Ich suche schnell nach einer genauen Uhrzeit, mein Blick fällt zurück auf das Fahrkartendisplay. Abfahrt des gewählten Zuges ist 17:28 Uhr, und es ist 17:28 Uhr, wie ich unten rechts bei der Zeitangabe der Bahn lesen kann.

      Ein Griff ins Fahrkartenfach, Fahrschein raus, rennen und auf die Verspätung der Deutschen Bahn vertrauen. Das verbrennt Kalorien. Oder sind Sie schon mal mit 12-Kilo-Hanteln durch ihren Gymnastikraum gerannt, und das mit 20 bis 30 Leuten?

      Ausweichen muss man übrigens auch noch. Da tut man sogar noch etwas fürs Koordinationsvermögen, wenn man nicht unnötige Bekanntschaften schließen will. Die Welt ist ein einziges Fitnesscenter.

      Ich werde bei meinem Sturm aufs Gleis vom männlichen Reinigungspersonal angefeuert und werde belohnt: fünf Minuten Verspätung. Ein unerwarteter Erfolg an diesem Tag.

      Ich renne an orientierungslosen Fahrgästen vorbei, lasse die Erste-Klasse-Wagons in Bestzeit neben mir liegen, verbrenne die nächsten 124 Kalorien und steige hinter dem ICE-Bistro in Wagen Nummer neun ein. Geschafft! Im Großraumabteil gibt es sogar noch Platz.

      Ich sinke dezent schwitzend, aber in Siegerlaune, in meinen „Ich hab ja noch so viel Zeit“-Sessel. Das Leben kann so schön sein, auch wenn ich kurzatmig geworden bin. Keine Kinder im Großraumwagen, große Behindertentoilette auf dem Gang – diese Fahrt kündigt sich vielversprechend an.

      Wenn ich erst einmal zu Hause, im Paradies, angekommen bin, werde ich meine mühsam verbrannten Kalorien wieder ohne schlechtes Gewissen aufstocken und meine Seele mit einem Schokoladenkuchen nach Art des Hauses trösten. Mit Schlagsahne.

      „Die Fohrkoarten bitte!“ Der Schaffner nimmt mir meinen hektisch zerknitterten Fahrschein, der mittlerweile wie von letzter Woche aussieht, aus der Hand.

      „Woos is denn dees?“

      Aufgeschreckt schaue ich auf den Fetzen, den der Schaffner gerade infrage stellt. Erleichtert stelle ich fest, dass es sich wirklich um den Zettel aus dem Automaten handelt.

      Im nächsten Augenblick schaue ich genauer hin. Was macht denn meine Kontonummer auf dem Fahrschein?

      „Junge Frau, des is Ihr Abbuchungsbeleg. I brauch a Fohrkoarten!“

      „Ja, ja, Moment.“ Ich krame aufgeregt in meiner Handtasche, um Zeit zu gewinnen. Ein paar Gedanken später finde ich die Lösung in meiner Erinnerung. Dort taucht der schemenhafte Hinweis des Fahrkartenautomaten auf. „Es werden zwei Belege gedruckt.“

      Zwei! Eine 50:50-Chance, die ich verloren habe. Typisch für mich!

      Mein Fahrschein wartet wahrscheinlich immer noch vergeblich im Automatenfach beim „Maschinenkollegen“ am Münchner Hauptbahnhof.

      „O nein!“, entfährt es mir im ehrlichsten Ton der Verzweiflung.

      Jetzt kann ich mich nicht mehr fragen: „Was is dees?“ und die hilflose Frau spielen.

      „Aber Sie sehen doch, dass ich die Fahrkarte gezahlt habe.“ Meine spärliche weibliche Hilflosigkeit kann den gut fünfzig Jahre alten „Ich mach hier nur meine Arbeit“-Schaffner nicht überzeugen.

      „Ober i brauch a Foahrkoartn, junge Frau.“

      Der Zug muss aus Österreich kommen. Meine Chancen stehen gerade ganz schlecht. Keiner der konzentriert lauschenden Fahrgäste kommt mir in diesem Augenblick zur Hilfe. Um mich herum sitzt scheinbar ein lebendiges Wachsfigurenkabinett. Jetzt wären doch Kinder, so ab acht, gut gewesen. Die hätten etwas gesagt.

      Es bleibt mir keine andere Wahl. Ich ziehe langsam, keine Waffe, aber meinen Geldbeutel aus der Tasche und zahle noch einmal: 66 Euro.

      Es trifft ja keine Arme.

      „So ein Kaiserschmarrn!“, murmele ich wütend und stelle mir den Sitz in eine angenehmere Liegeposition. Langsam versuche ich mich wieder zu beruhigen. Immerhin bin ich noch 34, und es ist erst Mitte März. Das Jahr ist noch jung.

      Trotzdem bin ich immer noch ohne neuen Job, und es gibt nicht einmal die Hoffnung auf einen Drehtag. Noch nicht einmal eine Einladung zu einem Werbecasting ist in Aussicht.

      Kein Wunder, denn ich wollte ja unbedingt Schauspielerin werden.

      Immerhin soll es uns noch besser gehen als den Journalisten und den Soziologen. Übrigens sind dies alles Berufe, die ich vor der Schauspielerei ins Auge gefasst habe. Meine Wahl war demnach die aussichtsreichste. Statistisch gesehen.

      Kurz

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