Mord auf der Messe. Uwe Schimunek
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Читать онлайн книгу Mord auf der Messe - Uwe Schimunek страница 9
So etwas hatte Katzmann befürchtet. Im Herzen der Stadt strömte das Volk zum Ereignis des Jahres, und Leistner bereitete einen seiner berüchtigten Aufsätze über etwas ganz anderes vor.
«Ich werde zuerst ein paar theoretische Grundlagen ausführen und dann mit feurigen Worten zur Teilnahme am Volksbegehren aufrufen. Zum Schluss werde ich zeigen, welche Ungerechtigkeit die Entschädigung bedeutet …»
Theoretische Grundlagen, feurige Aufrufe – Katzmann lief ein Schauer über den Rücken. Wie konnte er den Chef vor dem Schlimmsten bewahren? Und die Leser natürlich auch?
«Schau, Genosse Konrad, ich habe eine Liste anfertigen lassen. Wilhelm II. soll 600 000 Reichsmark im Jahr bekommen, ein Arbeitsloser mit Familie 750. Das ist doch zum Schreien!»
Katzmann nahm den Zettel. Die Zahlen waren beeindruckend. Selbst ein pensionierter General stand bei 18 000 Reichsmark, ein dreißigprozentiger Kriegsversehrter ganz am Ende der Liste bei ganzen 100 Mark. «Das ist eine Frechheit. Da hast du recht, Eugen. Sollte das nicht ganz vorn stehen?»
«Aber Genosse Konrad, ich kann doch meine Zeitung nicht mit einer Tabelle aufmachen! Das sieht doch aus, als hätte ich aus Versehen die Börsenberichte auf Seite eins gedruckt.»
Hm, da war was dran. Doch mit einer guten Überschrift und einem kurzen, aber starken Text, der zur Liste führte … Katzmann guckte noch einmal auf die Liste, überlegte und fragte dann: «Eugen, was macht eigentlich 750 geteilt durch 365?»
«Was?»
«Ich meine, was bekommt ein Arbeitsloser am Tag?»
«Ah …» Leistner nickte, paffte. Er nahm einen Stift und rechnete. «Zwei Mark Fuffzig … Warte mal …» Die Qualmwolken wurden dichter. «1670 Mark bekommt der alte Kaiser nach Doorn.»
Der Kaiser in seinem holländischen Exil, wohin er kurz vor Kriegsende getürmt war … Daraus musste sich doch was machen lassen. Katzmann schaute noch einmal auf die Liste, rechnete.
«Guck mal, Eugen. Du machst eine Überschrift: Die Rentenempfänger der Republik – und dann schreibst du die empörendsten Fakten auf …» Katzmann zögerte kurz, rechnete im Kopf weiter und sagte dann: « 1640 Goldmark täglich für den gesunden Deserteur in Doorn – 27 Goldpfennig für den dreißigprozentigen Kriegsverletzten. Das ist der Einstieg, und dann wird man auch neugierig auf die Liste.»
«Und du meinst, den Aufruf und die Theorie mache ich hernach?»
Die Theorie könnte vermutlich ganz wegfallen, dachte Katzmann, nickte aber artig.
«Ist das nicht ein wenig zu plakativ, Genosse Konrad?»
«Mit welchen Mitteln kämpft der Feind, Eugen?»
Leistner schrieb, rauchte und nickte. «Da sagst du eine Wahrheit, Genosse Konrad.» Er schrieb den von Katzmann vorgeschlagenen Satz auf einen Zettel. «Gut, so machen wir es.»
«Dann kann ich mich in den nächsten Tagen auf der Messe umschauen … und mich ein bisschen nach der Blei-Bande umhören.» Katzmann sah, wie Leistner paffte, und merkte, wie der zu murmeln begann, als er anfügte: «Über die Blei-Bande würde ich auch ein paar Zeilen für die morgige Ausgabe schreiben.»
Leistner guckte kurz auf, als wolle er sagen: Du immer mit deinen Kriminalfällen! Dann hielt er das Blatt mit den ersten Worten des morgigen Aufmachers hoch und nickte.
Das Bureau von Herfried Rinke wirkte wie aus einem Museum geklaut. Die Möbel – vom Sekretär über die stoffbezogenen Stühle bis zum Holztisch – schienen mit der Wucht des Neobarock auf dem Teppich mit den goldenen Verzierungen zu lasten.
Heinz Eggebrecht hatte einen kleinen Spaziergang durch die Stadt gemacht, nun würde der Cognac in seinem Glas ihn schon nicht umhauen. Den Schnaps hatte Rinke auf den Tisch gestellt und sich dann für einen Augenblick entschuldigt. Der künstlerische Leiter des Krystall-Palastes stand am Regal neben seinem Schreibtisch und blätterte in einem Buch mit Ledereinband. Wie er vor dem Regal auf die Seiten blickte, erinnerte Rinke an einen Dirigenten, der vor dem Auftritt noch einmal seine Noten studierte. Er trug einen Smoking, der seine hagere Figur unterstrich. Die Haare sahen aus, als sei Rinke direkt nach dem Bad in einen Tornado geraten. Die grauen Strähnen würden sicher bis auf das Revers des Smokings fallen, stünden sie nicht in alle Richtungen vom Kopf ab.
«Wann, sagten Sie, wollen Sie den Termin mit Madame La Belle haben?»
«Wenn es nach mir ginge, so bald wie möglich.» Eggebrecht setzte den Cognacschwenker an und trank einen Schluck. Der Schnaps floss die Kehle hinunter wie warmes Öl. Es kam ihm vor, als schalte sein Gehirn einen Gang herunter. Die ganze Welt schien hinter einem Schleier zu verschwinden – ein gutes Gefühl. Eggebrecht beschloss, diesen Alkoholpegel für den Rest des Tages beizubehalten. Schließlich war Sonntag und somit eigentlich ein freier Tag.
«Hm …» Rinke blätterte in dem Buch, kam zum Tisch und setzte sich. Er blätterte noch eine Seite weiter. «Dienstagvormittag wäre ein guter Zeitpunkt … Da ist keine Probe, und auch sonst stehen keine Termine für Madame an.»
Übermorgen. Eggebrecht überlegte. Einerseits schien ihm das nur mit großzügiger Auslegung unter «so bald wie möglich» zu fallen, andererseits hatte er sich bei seinen Eltern für die ganze Woche eingenistet, und die Messe wollte auch photographiert werden. Und da waren auch noch Katzmann und die Sache mit der Blei-Bande … «Dienstagvormittag würde mir auch passen. Wo könnte ich die Aufnahme machen?»
«Am Dienstag könnten Sie zwischen elf und zwölf Uhr den Varietésaal nutzen.» Rinke trank einen Schluck Cognac. Er beugte dabei den Kopf nach hinten, seine Haarpracht erinnerte an die Borsten eines überdimensionalen Putzgerätes.
«Wo melde ich mich am Dienstag?»
«Sie kommen am besten hier ins Bureau, Herr Eggebrecht. Meine Sekretärin wird sich dann um alles kümmern.»
Sekretärinnen waren immer gut. Eggebrecht hatte in Berlin gelernt, dass Termine am zuverlässigsten eingehalten wurden, wenn eine Tippse sich darum kümmerte. Für Vereinbarungen, die er mit wuschelhaarigen künstlerischen Leitern traf, galt das erfahrungsgemäß in besonderem Maße.
«Kommen Sie, ich stelle Ihnen Fräulein Schneider vor.» Eggebrecht trank seinen Cognac aus und stellte den Schwenker auf den Tisch. Auf dem klobigen Möbel wirkte das Glas wie eine Daunenfeder auf einem Ziegelstein. Er stand auf und folgte Rinke zum Vorzimmer.
Fräulein Schneider und ihre Stupsnase waren ihm schon beim Hereinkommen aufgefallen. Die Tippse trug einen Bubikopf, wie ihn die Mode gerade vorschrieb. Unter dem braunen Pony sausten zwei grasgrüne Augen zwischen den Wimpern hin und her.
«Fräulein Schneider, Herr Eggebrecht wird am Dienstagvormittag kommen, um Madame La Belle abzulichten. Sie werden ihn in den Varietésaal begleiten.»
Fräulein Schneider nickte und zwinkerte Eggebrecht zu, als wolle sie sich mit ihm zur Begehung von kleineren Straftaten verabreden. Oder bildete er sich das nur ein? Eine Welle von Wärme wanderte seinen Hals hinauf.
Rinke verabschiedete sich, verschwand in seinem Bureau und ließ Eggebrecht mit Fräulein Schneider allein.
«Wann darf ich Sie am Dienstag erwarten?»