Das Lied der Grammophonbäume. Frank Hebben

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Das Lied der Grammophonbäume - Frank Hebben

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während ich an der leeren Stelle vorbeischritt, wo sich die Silhouette der fehlenden Uhr auf der Tapete abzeichnete, ein heller, fast weißlicher Fleck; Jahrzehnte hatte sie dort gestanden, nun war sie plötzlich verschwunden.

      »Gustav?«, rief ich halblaut, mich dem Rauchsalon nähernd. Ich stieß die Türe auf und ging am Piano vorbei zu den Lehnsesseln am Kamin. Das Feuer war nahezu ausgebrannt, nur blasse Zungen leckten über die knackenden Scheite. Tiefe Schatten, die Vorhänge waren zugezogen. Ich stellte den Koffer ab.

      »Gut, dass du gekommen bist.« Der Tonfall seiner Stimme wirkte kraftlos, dumpf und kratzig und seltsam weit fort.

      Und als ich den Sessel passierte, ihm die Hand reichen wollte, traf mich beinah der Schlag: Gustavs Kopf, sein Hals, seine Schultern waren dürr und eingefallen – Haut und Haare glänzten wächsern wie bei einer Spielzeugpuppe oder schlimmer: wie bei einer Leiche, die man einbalsamiert hatte. Ein Schauer kroch mir den Nacken herunter.

      »Mein Gott, du bist schwerkrank. Hast du deinen Leibarzt konsultiert?« Aus diesem Grund hatte er mich also herbeigerufen, und das, obwohl er wusste, dass ich weder einen Doktortitel noch größere Berufserfahrung vorweisen konnte. Außerdem befassten sich meine Forschungen mit dem Zelltod, nicht mit der Heilung von Krankheiten. Ich ergriff seine Hände, sie waren eiskalt. »Wie ist dein Zustand, Onkel? Hat dich schon jemand untersucht?«

      Mechanisch hob Gustav eine Hand und deutete auf den zweiten Sessel. »Bitte, setz dich.«

      Er war kaum wiederzuerkennen. Sein Gesicht schien wie gelähmt, eine Maske – kein Muskel rührte sich unter der wächsernen Haut. Auch wenn ich auf diesem Gebiet kein Experte war, vermutete ich einen Schlaganfall oder ein schweres Leberleiden. »Du musst unverzüglich ins Spital. Wo ist dein Dienstbote Heinrich? Er soll dich –«

      »Hör mir genau zu«, unterbrach er mich heiser. »Ich habe etwas Furchtbares getan, von dem ich dir beichten will, ehe es zu spät für uns ist. Bitte, es kostet mich Kraft, also unterbrich mich jetzt nicht.«

      Ich zögerte, dann setzte ich mich, lehnte meinen Rücken ans Polster. »Na schön, was möchtest du mir erzählen?«

      Schläfrig drehte Gustav den Kopf, betrachtete meine Brust mit glasigen Augen. Er schien unendlich müde; die Lippen bewegten sich kaum, während er sprach:

      »Soweit ich zurückblicken kann, übten leblose Dinge eine weit größere Faszination auf dich aus als lebende. In deiner Kindheit hast du Schmetterlinge gejagt, um sie auf Kork zu spießen, seltene Steine gesammelt oder tote Hasen seziert. Du warst schon immer der Forscher und ich habe dein Talent unterstützt, auch weil ich mich in dir widerspiegeln konnte: Was für dich Muskeln und Sehnen, waren für mich Zahnräder und Metallfedern; mit Leidenschaft habe ich meine Uhren hergestellt, die mir ein bescheidenes Vermögen einbrachten.«

      »Ja, Onkel.« Ich wusste nicht, was ich sonst antworten sollte. Worauf wollte er hinaus? Immer noch starrte er auf meine Brust, völlig unbewegt. Mir kam der schreckliche Gedanke, dass Gustav vielleicht bald sterben würde. War es das, was er mir im dramatischen Vortrag beibringen wollte: dass er unheilbar krank war? Soweit mir bekannt, hatte er die Siebzig längst überschritten.

      Seine Halswirbel knackten, als er den Kopf zum Kamin drehte. »Lieber Cornelius, ich habe in den letzten Jahren viel Zeit alleine verbracht. Ava, meine zweite Frau ist mir, wie du ja weißt, durch diese furchtbare Schwindsucht unter den Händen weggestorben. Mein Sohn Karl wurde in der Schlacht bei Sedan erschossen. Und du warst mit deinen Forschungen beschäftigt. Als alter Mann fühlt man sich leicht einsam, kommt dann auf seltsame Ideen, gefährliche Vorhaben, denen man nachgeht, oder sollte ich besser sagen: denen man schnell verfällt. Ich habe viel gelesen in diesen Jahren, mich mit Sachen beschäftigt, die besser –«

      »Worauf willst du hinaus?«, ging ich gereizt dazwischen. Geduld gehörte nicht zu meinen Stärken.

      Doch Gustav fuhr einfach fort, als hätte er meine Frage überhört: »...interessierten mich Newtons astronomische Lehren, seine allumfassende Weltenmechanik, deren Teile – Planeten, Monde, aber auch der Mensch – nur als Zahnräder eines komplexen Räderwerks erscheinen. Der Kosmos als Maschine gedacht, deren Mechanismen festen Regeln folgen. Eine Weltenuhr, Cornelius. Verstehst du, was ich damit ausdrücken will?«

      »Nein«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Auf Gustavs Wangen bemerkte ich ein rotes, fiebriges Glühen, das aber auch vom Feuerschein herrühren konnte. Ich räusperte mich. »Wir –«

      »Mit dem geeigneten Wissen und Werkzeug kann man also jeden Zustand der Weltenmaschine ermitteln, in der Gegenwart, aber auch in Vergangenheit und Zukunft. Man kann seinen eigenen Tod betrachten.«

      Irgendwo klackte es mechanisch. Ich horchte nach dem Ursprung des Geräuschs. Nichts. »Du hast Fieber, Gustav, du delirierst. Wir sollten dich schleunigst zu Bett bringen.«

      Anstatt zu antworten, hob Gustav die Arme, die er matt auf beiden Lehnen niederlegte. »Newton war Okkultist, wusstest du das? Sein Gravitationsgesetz hat ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben. Und: Er verstand das Universum als eine vom Allmächtigen entworfene Geheimlehre. Das Rätsel, so glaubte er, würde sich dem Initiierten durch reine Geisteskraft offenbaren. Ich konnte mir eine Abschrift seiner obskuren Schriften über Alchemie und Mystik beschaffen. Dann habe ich weitergeforscht. Und es ist mir tatsächlich gelungen, eine Apparatur nach kosmischem Vorbild zu entwerfen, zu bauen und in Gang zu setzen. Aber mir wurde kein Blick in die Zukunft geschenkt ...«

      Er machteeine längere Pause. Das Feuer prasselte. »Nein, diese Maschine hatte eine andere Wirkung, eine gänzlich fatale, die ich nicht mehr abwenden kann: Das Jüngste Gericht wurde eingeleitet. Das Reich der Toten steht offen.«

      Was sollte ich darauf erwidern? Selbstverständlich waren seine Worte lächerlich, ein hanebüchener Unsinn, den er im Fieberwahn daherfaselte. Aber ich wollte ihn nicht aufregen, das wäre Gift für seinen jetzigen Zustand gewesen. Sein Zustand war besorgniserregend – so ausgemergelt und kränklich er in seinem Sessel kauerte, die leblosen Augen starr aufs Feuer gerichtet.

      »Lieber Onkel«, begann ich, doch wieder kam ich nicht dazu, meinen Satz zu beenden. Ich hörte ein metallisches Knirschen.

      »Natürlich glaubst du mir nicht, hältst alles für das Geschwafel eines senilen Mannes. Also tu mir einen Gefallen: Bleib bis zur Dämmerung im Haus. Untersuche die Räume, die Kammer der Uhren, meine Werkstatt, und du wirst feststellen, dass hier vieles nicht mehr mit rechten Dingen zugeht. Es gibt ... seltsame Erscheinungen, grauenhafte Bilder, die –« Gustav brach ab. Wieder ein Klacken, das offenbar unter dem Teppich hervordrang.

      »Gut, ich werde bleiben«, sagte ich und stand auf. »Man kann dich ohnehin nicht –«

      »Lass mich allein. Erst am Abend erwarte ich dich zurück.« Dann schloss er die Augen und rührte sich nicht mehr.

      *

      Noch gut zwei Stunden, bevor es dämmern würde. Draußen hatte das Licht bereits nachgelassen und ein gräulicher Schleier lag auf den Möbeln der Eingangshalle, die ich durchschritt, um mir die Uhrensammlung im Obergeschoss genauer anzusehen. Es behagte mir nicht, Gustav unten im Rauchsalon alleine zu lassen, andererseits schien er dringend Schlaf zu brauchen. Sollte er sich etwas ausruhen – denn ich hatte mir fest vorgenommen, ihn gleich am nächsten Morgen in ein Spital einzuweisen.

      Auf den Treppen wurden meine Schritte durch einen Brokatläufer gedämpft; und eine beklemmende Stille umgab mich, wurde noch drückender, als ich das zweite Stockwerk erreichte. Anscheinend übte Gustavs Schauergeschichte doch eine Wirkung auf mich aus, obwohl ich mir das nicht eingestehen wollte: Ich war Mediziner, mich interessierten Fakten,

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