Überirdische Rätsel. Reinhard Habeck
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Der Urbaum soll vor über 2000 Jahren geblüht haben. Bereits Kleopatras Balsamgärten haben an diesem Platz verführerisch geduftet. Die Überlieferung erzählt, dass der Marienbaum mit jenem mythischen Baum identisch sei, unter dem bereits Jahrhunderte zuvor die altägyptische Isis (Göttin der Magie, Geburt und Wiedergeburt) den vom toten Osiris empfangenen Horusknaben gesäugt habe. Götterdichtung? Oder übernahmen orthodoxe Kleriker eine mystisch-fromme Vorstellung, die bereits lange Zeit zuvor an diesem heiligen Ort existierte?
Statuette der altägyptischen Göttin Isis mit dem Horusknaben
Vergilbte Postkarte aus dem 19. Jahrhundert: So hat der Baumriese einst ausgesehen.
Seit 2015 keimt der Marienbaum wieder neu.
Als wir vor dem Wunderbaum stehen, stockt uns der Atem: Leider war an der uralten, denkmalgeschützten Sykomore (auch „Maulbeer-Feige“ oder „Esels-Feige“) um 2013 ein grauenvoller Vandalenakt verübt worden, entweder im Auftrag der Behörden, von dilettantischen Stadtgärtnern oder fanatischen Islamisten. Irgendwann in diesem Zeitraum wurden von irgendjemandem große Teile des heiligen Baumes mittels Kettensäge abgesägt.
Ein Frevel sondergleichen, der weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit geschah. Immerhin: Als wir die geschändete Stätte besuchen, keimen frische grüne Zweiglein auf dessen verstümmelten Überresten. Für uns ein kleines Wunder, denn der Baum galt bereits als abgestorben (siehe Farbteil Seite 67 unten).
SELBSTPRODUZIERTER FOTOSPUK?
Metaphysisch mutet noch etwas an: Gleich neben dem Marienbaum steht ein Gebäude, das als kleines Museum dient. Hier sind die Fluchtroute und die Aufenthaltsorte der Heiligen Familie mittels Bildern und einer Landkarte rekonstruiert. Ich habe in dem Häuschen fleißig fotografiert. Wieder daheim in Wien sticht mir bei der Durchsicht der Reisebilder ein Foto ins Auge. Es zeigt in der Bildmitte unten einen gleißenden Lichtfleck mit Halo. Hatte ich in El Matarija eine „Erscheinung“ dokumentiert? Oder einen Geist geknipst? Vermutlich gibt es eine irdisch-vernünftige Erklärung dafür. Am ehesten wohl eine Spiegelung. Doch dort, wo das grelle Lichtgebilde hinweist, gab es weder am Boden noch an anderer Stelle eine Lichtquelle, die den Effekt hätte auslösen können. Wunderlich ist dies allemal (siehe Farbteil Seite 68 oben).
Kosmische Spuren
SESCHAT UND DER ISCHED-BAUM
Der heilige Baum von Heliopolis mit Thot und der Göttin Seschat
Sowohl die Erscheinungsstätte Zeitoun als auch der Marienbaum befinden sich auf geschichtsträchtigem Boden. Beide Plätze liegen innerhalb der legendären „Sonnenstadt“, die im Alten Testament „On“ genannt wird. Damit ist der uralte Verehrungsort Heliopolis gemeint, wo der Überlieferung nach die Weltschöpfung stattfand, der Sonnengott Re mit seinen Urgöttern erstmals erschien und später wieder zum Himmel zurückkehrte. Anders ausgedrückt: Hier in diesem Vorort von Kairo liegt der geistig-religiöse Anfang Ägyptens und seiner Götterwelt. Offenbar sind hier seit jeher himmlische Wesen erschienen – als befände sich in der Umgebung eine Art „Sternentor“ zu fremden Welten.
Dazu gibt es eine mythologische Verknüpfung zu einer geheimnisvollen Göttin namens Seschat. Sie ist das weibliche Pendant des himmlischen Lehrmeisters Thot und wurde im Altertum als Göttin der Weisheit, der Schreibkunst und der Zeitmessung geschätzt. Sie wird auch „Herrin der Baumeister“ genannt, weil sie den vorbestimmten Bauplatz für Heiligtümer festlegte. Bei diesen Zeremonien spielte ein wundersamer Baum eine besondere Rolle, der schon zu Beginn der ersten Pharaonendynastien im Bereich des Sonnentempels von Heliopolis große Verehrung genoss. In den Mythen wird er als „Isched-Baum“ bezeichnet. Auf seinen Blättern sollen die Regierungsjahre der Könige verzeichnet gewesen sein.
Neben der geografischen Gemeinsamkeit zum Marienbaum von Matarija gibt es auch eine kosmologische: „Der Name der Göttin Seschat ist ebenso wenig erklärbar wie der Gegenstand, den sie als Abzeichen auf dem Kopf trägt und der nach alten Darstellungen ursprünglich die Göttin selbst gewesen ist“, notieren die Fachexperten Wolfgang Helck und Eberhard Otto in ihrem „Wörterbuch der Aegyptologie“.
Gemeint ist ein siebenstrahliger Stern, über dem sich ein mondsichelförmiger Halbkreis mit zwei senkrechten Spitzen erhebt. Was war ursächlich damit gemeint? Eine Art Heiligenschein? Seschat ist oft in einem Kleid abgebildet, das mit Sternenmotiven übersät ist. Dabei hält sie manchmal einen Stab in einer Hand, der als Zeichen für „Unendlichkeit“ und „Wiedergeburt“ gedeutet wird. Attribute, die man ebenso aus mancher Ikonografie der Jungfrau und Himmelskönigin Maria kennt.
VERSUNKENES REICH HELIOPOLIS
„Wo lassen sich noch sichtbare Überreste der einstigen Götterstadt Heliopolis entdecken?“, frage ich unseren Ägyptologen. „Außer Schutthügeln, Gruben und brüchigen Granitblöcken ist als einziger Zeuge nur ein Obelisk erhalten“, bedauert Ahmed. Wir wollen ihn sehen, zumal er nur wenige Hundert Meter vom Marienheiligtum El Matarija entfernt steht. Es geht vorbei an Trümmerschutt und mit Graffiti bemalten Mauern, dann stehen wir vor einer archäologischen Sperrzone. Das Betreten ist nur mit Sondergenehmigung möglich. Mithilfe unseres Ägyptologen gelingt es immerhin, dass wir ein paar Meter hinter die verbotene Zone dürfen und bescheidene Einblicke der Ausgrabungsstätte erhalten. Hier im antiken Heliopolis wurden zahlreiche Pfeiler zu Ehren des Sonnengottes aufgestellt. Viele wurden bereits in der Antike verschleppt oder zerstört. Beispielsweise stammt der Obelisk auf der Piazza del Popolo in Rom aus Heliopolis. Am originalen Schauplatz steht heute nur mehr der über zwanzig Meter hohe Obelisk von König Sesostris I. aus dem früheren Mittleren Reich. Im Zuge von Ausgrabungen kam vor Jahren ein weiterer von König Teti zum Vorschein, der zerbrochen im Gelände liegt (siehe Farbteil Seite 68 rechts unten).
Derzeit haben die Behörden mit findigen Grabräubern zu kämpfen. Unser Altertumsexperte verrät, dass es bereits zu mehreren Verhaftungen gekommen sei. Davon legen abbruchreife Häuser Zeugnis ab. Sie wurden illegal ohne Baugenehmigung errichtet, oft nur deshalb, um unbeobachtet in den Kellertiefen einen Tunnel ins Grabungsgelände zu buddeln. Kriminelles Ziel sind Schätze aus der Pharaonenzeit, die man am Schwarzmarkt zu verhökern hofft.
Für die Archäologen ist es oft ein Wettlauf mit der Zeit. Die größten Teile des antiken Heliopolis sind längst verbaut. Die noch wenigen freien Flächen und Grundstücke, darunter auch der Platz um den Obelisken Sesostris’ I., hat die Altertümerverwaltung gekauft und ummauert. Grabungsmüde sind die Archäologen nicht. Sie vermuten, dass noch viele Geheimnisse tief unter dem Erdreich im Verborgenen schlummern und auf ihre Entdeckung warten. Noch gesucht werden im Heliopolis-Bezirk die Ruinen des in der ägyptischen Mythologie bedeutenden Atum- und Re-Harachte-Sonnentempels sowie das „Haus des Benu-Vogels“. Was damit ursprünglich gemeint