Seidenkinder. Christina Brudereck
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In Gedanken wanderte sie wieder am Palar entlang. Seit ihrer Kindheit hatte der Wasserstand über Glück und Unglück entschieden. In der Regenzeit hatte der Monsun den Fluss immer über die Ufer treten lassen, im trockenen Winter dagegen konnte aus dem großen Fluss ein kleiner Bach werden. Sie konnte sich aber nicht daran erinnern, dass er früher jemals so vollkommen ausgetrocknet gewesen war wie heute. Irgendwie schien dieses Land mit seinen Flüssen, Bergen und Wäldern noch mehr aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Sie wusste nicht, warum. Als kleines Mädchen hatte sie Hochwasser und Trockenheit, Regen und Sonne einfach so hingenommen, irgendwie sicher von den Göttern gelenkt. Heute ahnte sie zumindest, dass es für einige dieser Phänomene, Überflutung und totale Dürre, sehr menschliche Erklärungen gab - aber das war nur eine Ahnung, sie durchschaute die Zusammenhänge nicht. Aber sie könnte ihren Sohn danach fragen.
Sie hatte hier schon als ganz junges Mädchen Wäsche gewaschen, um sie dann gleich auf den großen Wiesen trocknen zu lassen. Unter Indiens Himmel brauchte ein Sari nicht einmal eine halbe Stunde und alles Wasser war in der heißen Sonne verdampft. Sie dachte an die bunten Farben und an die flinken Hände ihrer Tante, an die anderen Kinder, mit denen sie gespielt hatte. In ihrer Erinnerung verschwammen die Kleider, die Hitze, das Wasser und die Nähe ihrer Freundinnen zu einem vagen Gefühl von Geborgenheit. Das alles war lange her. Wieder einmal wunderte sie sich, dass auch aus schweren Zeiten leichte Bilder und Eindrücke für eine Seele zurückbleiben konnten.
Sie musste wohl eingenickt sein und als sie jetzt aufwachte, war sie kurz verwirrt. Ihre Erinnerungen waren weiter bis in ihre Träume mitgegangen und hatten dort Gefühle wachgerufen, die doch eigentlich für immer schlafen sollten. Sie blieb noch für einen Moment in ihrem Schaukelstuhl sitzen, schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verjagen wie eine lästige Fliege. Dann stand sie für einen Moment da, sah sich um und machte sich an die Arbeit, die Reste des gestrigen Abends zu beseitigen.
Gestern Abend. Sie hatten Gäste gehabt. Vier Amerikaner. Hier in ihrem kleinen Haus. Sie arbeitete heute langsam und erlaubte den Gedanken, sie zu unterbrechen.
„Priya, dies ist dein Zuhause“, sagte sie beruhigend zu sich selbst. Wenn man bedachte, wo sie herkam und dass sie lange überhaupt kein Zuhause gehabt hatte, konnte sie nur staunen. Ihr kleines Haus war ein sauberes Haus, in dem es kühl war. Der Steinboden hatte bunte Kacheln, die sie sehr mochte. Die Wände waren weiß. Im kleinen Vorhof zur Straße stand ein Mangobaum, der sogar Früchte trug, weil er von ihrem Sohn gut gepflegt wurde. Drei Stufen führten zur Haustür - eine Hütte hatte niemals eine Treppe - und sie mochte es, dort zu sitzen, am frühen Abend, wenn die Steine noch warm waren von der Sonne und ihr Sohn gleich nach Hause kommen würde. In ihren Augen war das alles hier wunderbar.
Gestern hatte sie den Gästen ein Festessen serviert, mit Gemüse, Fisch, Fleisch und Curry und verschiedenen Sorten Nan. Sie hatte den ganzen Tag in der Küche gearbeitet und die Speisen so zubereitet, wie sie es gelernt hatte. Nicht wie andere junge Mädchen von ihrer Mutter, sondern später, als Haushälterin, mühsam und mit vielen Nachfragen. Sofort hatte sie die Küche vor Augen, in der sie so lange Jahre Stunden um Stunden gearbeitet und allmählich ihr Glück gefunden hatte.
Sie reiste in letzter Zeit oft in die Vergangenheit, hatte sie festgestellt. Erinnerungen holten sie ein. Vielleicht war das so, wenn man alt wurde? Ließen dann alle ihr Leben noch einmal an sich vorbeiziehen? Gehörte das dazu - wie eine Vorbereitung auf den nächsten Schritt? Sie stand da, in ihrer eigenen Küche jetzt, eine der Schüsseln von gestern Abend in der Hand, und wie im Traum ging sie mit ihrem Zeigefinger den Schüsselrand entlang, führte ihn zum Mund und schmeckte genussvoll die Mischung aus Linsen, Knoblauch, Safran und Öl. Ein Rezept, das der Junge, der bei ihnen lebte, Ganesh, erst kürzlich mit in ihr Leben gebracht hatte.
Noch einmal ging sie mit dem Finger durch die Schüssel. Naschen, dachte sie kurz, das war auch so eine kleine Regung, die es nur dann gab, wenn genug zu essen da war. Arme hatten nichts zu naschen, sie wusste es noch. Bevor die Erinnerung sie wieder mitreißen konnte, zwang sie sich, mit ihren Gedanken zum gestrigen Abend zurückzukehren. Es erschien ihr wichtig, zu verstehen, was in ihrem Haus geschehen war, ausgesprochen und zwischen den Zeilen.
Zufrieden hatte sie zugesehen, wie die Gäste jede ihrer Spezialitäten genossen. Ungewohnt, das wusste sie, weil man ihnen kein Besteck, nicht einmal einen Löffel gegeben hatte, sondern sie nötigte, mit der Hand zu essen. Ja, sie waren zu Gast in Indien und wurden deshalb großzügig bewirtet. Es war immer eine Ehre, einen Gast zu haben. So hatte sie es gelernt und so vermittelte sie es Ganesh. So war es richtig. Aber von Gästen wurde gleichzeitig auch erwartet, dass sie einige ihrer indischen Bräuche mitmachten. Es war wie ein kleiner Scherz, eine Art freundlicher Seitenhieb gegen die sogenannte Zivilisation. Bei dem Gedanken musste sie lächeln und das Bild von den weißen Händen, die unerfahren ihr Essen zum Mund führten und sich danach zu sehnen schienen, einen Löffel zu halten, entlockte ihr sogar kurz ein richtiges Lachen, ein Glucksen von tief innen.
Früher war sie schüchtern gewesen, wenn Gäste kamen. Geschäftsleute, Missionare, Gelehrte waren Menschen, die weit gereist waren und viel von der Welt gesehen hatten. Wer war da sie? Priya, Mutter, Haushälterin, Köchin, Inderin, lebenslang? Eine alte Frau in einem Sari. Sie zupfte den Stoff zurecht, Seide, hellgelb, von feinen Goldfäden durchzogen und mit einer aufwendig verzierten Schmuckborte am Saum. Eine Bahn feinstes Tuch, geschickt gewickelt, einmal um die Hüften gedreht, über die eine Schulter gelegt, gewickelt, über der Choli, der engen Bluse. Noch einmal strich sie mit ihren trockenen Händen über die Seide. Eine fünf Meter lange Stoffbahn, die ganz ohne Nähte, Knöpfe und Reißverschluss auskam und einfach, aber gekonnt um einen Körper gehüllt wurde. Zusammengehalten höchstens von ein paar Sicherheitsnadeln, versteckten kleinen Helferinnen. Ein Sari verlieh Würde, jede Frau wusste das. Auf geheimnisvolle Weise sagte dieses Kleidungsstück jeder, die es trug, dass sie selber einzigartig sei. Das war der Zauber der Farben, der Seide, der Stickereien. Sie atmete tief durch. Seide, sie war fein und stark gleichzeitig, so wie ein Mensch sein sollte. Indien steckte voller Schätze und es war richtig, sie zu zeigen, andere damit zu beschenken, sie selber immer wieder für sich zu entdecken.
Über die Jahre hatte sie sich immer häufiger von ihrem Sohn überreden lassen, sich nicht in der Küche zu verstecken oder sich in ihr Zimmer zurückzuziehen, sondern auf ihre Weise Teil der Gemeinschaft zu sein.
Früher hatte es diese Möglichkeit zum Rückzug gar nicht gegeben, keinen solchen Schutz der Privatsphäre. Aber hier hatte sie ein eigenes Zimmer. Sie konnte sich noch genau an die erste Nacht darin erinnern, als sie vor etwa zehn Jahren hier eingezogen waren. Am Tag hatte sie die Küche eingeräumt und war dann zwischendurch immer wieder den kleinen Flur entlang zu ihrem Zimmer gelaufen, hatte die Tür geöffnet, vorsichtig in den Raum geschaut und war dann zufrieden wieder zurück in die Küche gegangen. Über die Schwelle wollte sie erst am Abend gehen. Feierlich. Und bis dahin würde sie sicher noch ein paar Mal hinlaufen, wie um zu sehen, ob es noch da war und nicht nur ein Traum.
Damals, vor Jahren, an jenem ersten Abend hier in ihrem neuen Haus, hatte sie den Moment, schlafen zu gehen, noch eine Weile hinausgezögert, hatte dann schließlich ihrem Sohn eine gute Nacht gewünscht und war in ihren Saal getreten. Ja, so fühlte es sich immer noch an: groß und prächtig und sicher. An der einen Wand stand ein Bett mit einer Matratze, einem hellen Laken und einer gewebten grünen Decke. Darüber hingen ein Bild von Teresa und eine Ikone, die eine schwarze indische Maria mit ihrem Baby zeigte. In einer Ecke stand ein Stuhl. In einem Regal lagen ihre Kleider und ihre Habseligkeiten: einige sorgfältig gefaltete Saris, ein zweites Paar Sandalen, ein paar Bänder fürs Haar, ihre alte Brille, ein Stück Seife, eine Bibel. Unter dem Bett konnte sie ihren Koffer erkennen. Das war ihr Reich. Sie hatte es an jenem Abend nicht begreifen können und verstand es immer nicht so recht. Sie konnte jetzt eine Tür schließen und man würde anklopfen, wenn man etwas von ihr wollte. Sie würde so etwas sagen wie „Ja, bitte, gerne, herein, willkommen“ und sich freuen, dass jemand zu ihr kam.
Sie