Seidenkinder. Christina Brudereck
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Gestern Abend also hatte sie sich nicht zurückgezogen, sondern war dazugekommen. Sie hatte wie selbstverständlich in ihrem Sessel Platz genommen und von hier aus den restlichen Abend über die ganze Szene beobachtet. Ihrem Sohn zuliebe, sagte sie sich zwischendurch ein paar Mal, wie zur Vergewisserung, dass es richtig war. Wenn sie ehrlich war, wusste sie aber, dass sie inzwischen selber sehr gerne Teil dieser Gastrunden war.
Ein undeutliches Bild entstand vor ihren Augen. Es war der Moment, als sie die Mangos serviert hatte. Die Gäste hatten die sorgfältig in kleine Stücke zerlegten, zuckersüßen Früchte ganz andächtig gegessen. Ein fast heiliger Moment. Voller Staunen. Sie nickte innerlich und dachte: Ja, es gibt viele Arten zu beten. Das Sprechen mit dem ganz anderen ist manchmal ein Reden, dann wieder ein mehr schweigendes Hören, es kann auch ein Aufschrei sein oder ein abgrundtiefer Seufzer. Mancher kniet sich hin, so wie sie selbst, andere liegen abends in ihrem Bett, wieder andere gehen nach draußen vor die Tür, vielleicht weil der Himmel dort nicht so versperrt wirkt. Es gibt viele Arten, zu beten, oh ja. Gestern Abend hatten ein paar Gäste sorgfältig zerlegte zuckersüße Mangos gegessen. So konzentriert, aufmerksam, genießerisch, in sich versunken, abwesend, andächtig, einige schlossen sogar für einen Moment die Augen. Sie schmunzelte. Noch einmal dachte sie, berührt von dieser kleinen Entdeckung, die ihr sofort heilig wurde: Es gibt viele Arten zu beten, aber so, Mangos genießend, hatte sie es gestern Abend zum ersten Mal gesehen.
Dem Gespräch hatte sie nicht folgen können, die schnellen englischen Wörter flogen an ihr vorbei wie bunte kleine Vögel. Gezwitscher.Sie wusste, wenn sie wollte, konnte sie sich trotzdem jederzeit in das Gespräch einmischen, überraschend, aus dem Sessel in der Ecke. Sie war alt und genoss Respekt. Schließlich, auch das durfte man nicht vergessen, war sie ja seine Mutter. Priya, wie ihr Name sagte, geliebt. Und so erzählte sie manchmal eine ihrer Lieblingsgeschichten, wohl wissend, dass ihr Sohn die Geschichte schon kannte und die Gäste ihrer Muttersprache, Tamil, so wenig folgen konnten wie sie ihren englischen Worten. Aber keiner hatte es jemals gewagt, sie zu unterbrechen. Man sah sie in diesen Momenten dann interessiert an, nickte sogar zu ihren Worten und sie plauderte eine Weile. Bis sie die Lust verließ, ihr kleines Spiel zu spielen und sie ihre Hände über dem Bauch faltete, sich zurücklehnte und wieder schweigend in ihrem Sessel saß. Sie tat es mit einem Lächeln. Und ihr Sohn hatte ihr einmal gesagt, dass man dieses Lächeln „wissend“ nenne. Das hatte ihr gefallen. Denn es wirkte dann so, als würde sie ein Geheimnis kennen. Und vielleicht war das ja gar nicht so falsch.
An die Spüle gelehnt, stand sie da und sah aus dem Fenster. Sie füllte ein Glas mit Wasser und trank ein paar kleine Schlucke. Sie dachte an ihre Kinder. Sie alle waren erwachsen geworden und hatten etwas gelernt. Sie fühlte sich kurz wie eine Heldin. Ihr Ältester, Jaya, war sehr dunkel. Dunkler als sie, das war das, was wohl jeder als Erstes wahrnahm. Seine Haut war schwarzbraun und glatt. Sie sah ihn vor sich: Er war immer sorgfältig rasiert und trug sein Haar, das an den Schläfen ganz allmählich weiß wurde, kurz - ein interessanter Kontrast zu seinem Gesicht. Er wirkte schmal und klein, besonders heute im Verhältnis zu den ausländischen Gästen. Sein hellblaues Hemd ließ ihn frisch aussehen und fiel großzügig über den kleinen Bauchansatz. Aber das Auffälligste blieb sein Gesicht: Sein kräftiges Kinn zeigte seine Willensstärke, seine klugen Augen, wie wach er war. Er hatte immer viel gearbeitet, als Kind schon, und er liebte Menschen.
Als sie gestern Abend schließlich müde vor ihrem Bett kniete, ihren Knien sah man dieses Ritual nach den vielen Lebensjahren an, hatte sie den Gott, dem sie vertraute, wieder einmal darum gebeten, er möge ganz besonders gut auf das Herz ihres Sohnes aufpassen und ihm göttliches Licht und Leichtigkeit schenken.
Sie dachte an die Zeit zurück, als er zur Welt gekommen war. Wie schwierig alles war, weil ihr Mann in den ersten Jahren monatelang weit weg in Sri Lanka gearbeitet hatte und trotzdem nur sehr wenig Geld für sie zu Hause erübrigen konnte. Sie war Mutter von vier Kindern und dann Witwe und Mutter und eigentlich die ganze Zeit über immer schon vollkommen auf sich gestellt gewesen. Aber sie hatte großes Glück gehabt, hatte Arbeit gefunden und ihre Kinder hatten alle zur Schule gehen können, das Mädchen und die Jungen. Sie waren alle lebhaft und fleißig und man hatte sie unterstützt. Sie hatten ihre Chance erkannt und wahrgenommen, ja wahrhaft ausgeschöpft.
Als sie heute Morgen aufwachte, war Jaya schon weg gewesen. Sie merkte beim Aufräumen bald, dass es dabei nicht um die paar Teller und Schüsseln ging, sondern vor allem um die verschiedenen Eindrücke, die diese Gäste in ihrer Seele hinterlassen hatten.
Wieder schüttelte sie den Kopf, aber die Gedanken ließen sich nicht verjagen. Die Mischung aus Fremdheit und Dankbarkeit, die sie gegenüber dieser Art von Gästen jedes Mal empfand, brachte Unruhe in ihren Kopf. Ein irritierendes Durcheinander von Gefühlen, Erinnerungen und Verpflichtungen. Die Gewissheit, dass sie die größte Verbundenheit immer ihrem Sohn entgegenbringen würde, schenkte ihr vorläufig Frieden.
Um sich abzulenken, stellte sie den Fernseher an. Er brachte Bilder und Worte in ihr kleines Haus, er brachte die Welt zu ihr. Ein Freund kam manchmal abends vorbei, um mit Jaya die Nachrichten anzusehen, und meinte dann oft kopfschüttelnd, so ein Fernseher sei doch ein Wunder. Aber da hatte sie nur jedes Mal entschieden widersprechen können. Ein Fernseher zählte zu den Phänomenen, die dieser Freund und sie selber nicht erklären konnten, aber sie wusste, es gab Menschen, die diese Dinge sehr gut begreifen, verstehen und sogar weiterentwickeln konnten. Ein Wunder aber war etwas vollkommen anderes. Und das sollte er eigentlich auch wissen. Ein Wunder war ein Ereignis einer ganz anderen Dimension.
Die aktuelle Sendung zeigte, dass mehrere Tausend Reisbauern in Chattisgarh verhaftet worden waren. Das weckte ihr Interesse. Die Männer, Frauen und Kinder hatten das Demonstrationsverbot missachtet, waren in den Bus der Polizei gesetzt und zur Polizeistation gebracht worden, wo man wohl ihre Namen aufgeschrieben und sie dann wieder hatte gehen lassen. So etwas kam immer mal wieder vor. „Saatgut-Satyagraha“ nannten sie ihre Aktion.
Sie musste lachen, ein feines Kichern jetzt, das Einverständnis ausdrückte und Zufriedenheit, weil ihr klar wurde, dass diese mutigen Bäuerinnen und Bauern eigentlich nur taten, was sie im Geschichtsunterricht gelernt hatten, falls sie zur Schule gegangen waren. „Satyagraha“, das war ziviler Ungehorsam. Satyagraha war die gewaltlose Bewegung für die Wahrheit, für die Freiheit Indiens, gegen die Fremdherrschaft durch die Kolonialmacht, gelernt aus den Büchern oder, wie man auch sagen könnte, vererbt von Gandhi, einem ihrer wirklich Großen. Und diese Methode hatte nicht nur politische Freiheit durchgesetzt, sie überzeugte bis heute als Mittel, um politische Ziele zu erreichen. Aber sie verstand nicht genug von den Zusammenhängen, um wirklich zu erkennen, wofür diese Bauern kämpften. Intuitiv aber war sie auf ihrer Seite und stimmte ihrem Anliegen innerlich zu.
Auch danach würde sie ihren Sohn heute Abend fragen. Worum ging es bei dieser Satyagraha der Reisbauern? Sie wollte es wissen. Sie mochte alt sein, aber noch lebte sie schließlich in dieser Welt.