Seidenkinder. Christina Brudereck

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Seidenkinder - Christina Brudereck

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Klinik.

      Die Kapelle war in ein helles sanftes Licht getaucht, durch ein Oberlicht fiel Sonne in den Raum, und das verlieh ihm einen besonderen Charakter. Immer wieder sagten die Menschen, die hier hinkamen, um zu beten und Frieden zu finden, dass man den Eindruck habe, selber in Licht getaucht zu werden, wenn man diesen heiligen Raum betrat. Wie in vielen Kirchen auch standen hier an einem Gang entlang und in Reihen aufgestellt einige Bänke, etwa zehn, ausgerichtet auf einen schlichten Altar, vorne im etwas höheren Raum der Kapelle. Einzelne Menschen saßen da oder knieten, einige beteten flüsternd, leise, aber hörbar. Jaya bat seine Gäste, in der ersten Reihe Platz zu nehmen, und fuhr damit fort, ihnen die Lebensgeschichte von Ida Scudder zu erzählen.

      „Wie gesagt - Ida wollte nicht in Indien leben, geschweige denn die Arbeit ihres Vaters tun. Ihr müsst wissen, dass aus Familie Scudder in vier Generationen zweiundvierzig Missionarinnen und Missionare nach Indien und in andere Länder gegangen waren.“ Jaya zögerte kurz und wagte, zu sagen: „Die Geschichte, die ich euch an diesem Morgen erzähle, ist gut, sie inspiriert mich. Aber längst nicht immer war die Geschichte der Mission so positiv; manches Mal haben die Missionare die Menschen nicht beschenkt, so wie es sein sollte, sondern sie haben sie bestohlen, betrogen, eingeengt. Ida dagegen war eine ganz große Schenkerin.“

      Er erzählte weiter: „Eigentlich sah Ida sich selbst überhaupt nicht in der Rolle, diese Familientradition der Mission mit ihrem Leben fortzusetzen. Wenn sie betete, sagte sie zu ihrem Gott, dass sie nicht in Indien bleiben, sondern in Amerika leben wolle, dass ihre Freunde schon auf sie warteten und mit ihr das Leben entdecken und feiern wollten. Nun - ihre Einstellung und ihre Gebete änderten sich ganz plötzlich, im Jahr 1890, innerhalb von einer Nacht.

      Ida war allein zu Hause in ihrem Zimmer und las ein Buch, als ein Mann, ein Brahmane, zum Haus ihrer Eltern kam und sie bat, mitzukommen zu seiner Frau, die in Wehen lag und ein Kind zur Welt brachte. Die Hebammen hatten alles versucht, aber es gab Komplikationen und niemand wusste weiter. Ida musste dem Mann mitteilen, dass sie nur die Tochter des Arztes war und keinerlei Erfahrung mit Geburtshilfe hätte, dass sie aber ihren Vater gerne benachrichtigen würde. Der Mann lehnte das strikt ab, denn die Vorstellung, dass ein Mann seine Frau berühren würde, war für ihn undenkbar. Ida war hilflos, die schwangere Frau tat ihr leid, aber sie konnte nichts für sie tun.

      So wandte sich Ida wieder ihrem Buch zu. Noch einmal hörte sie Schritte auf der Veranda. War der Brahmane etwa noch einmal zurückgekommen? Hatte er es sich anders überlegt? Diesmal stand ein Muslim vor der Tür. Er sagte:, Bitte, kommen Sie schnell. Bei meiner Frau haben die Wehen eingesetzt und es scheint Schwierigkeiten zu geben.` Diesmal war Idas Vater zu Hause und bot selber an, den Mann zu begleiten. Der aber lehnte das Angebot ab. Niemand außerhalb seiner Familie hatte jemals das Gesicht seiner Frau gesehen. Er würde nicht zulassen können, dass ein weißer Ausländer zu seiner Frau käme. Ida und ihr Vater konnten seine Meinung nicht ändern und Ida ging wieder zurück in ihr Zimmer. Die Lust, zu lesen, war ihr mittlerweile allerdings vergangen.

      Erneut hörte sie Schritte auf der Veranda. Zu ihrem Schrecken erschien ein dritter Mann, ein Hindu, ein Angehöriger einer höheren Kaste, und auch er hatte eine junge Frau, die bei der Geburt ihres Kindes in Lebensgefahr schwebte.“

      Jaya legte eine Pause ein und sah aufmerksam in die Gesichter seiner Zuhörer. Sie waren seine Gäste, vom anderen Ende der Welt, aus Amerika, wie Ida Scudder. Sie waren hier, um die Arbeit seines Kinderhilfswerkes zu unterstützen. Sie würden Geld spenden, damit mehr Kinder zur Schule gehen und eine Ausbildung machen konnten, und sie würden Pateneltern suchen, die sich dann jeweils für ein Kind verantwortlich zeigen würden. Er selbst hatte von dieser einfachen Idee profitiert und sie überzeugte ihn immer noch. Er war ein Patenkind deutscher Geber, die ihn über ein großes Kinderhilfswerk, die Kindernothilfe, unterstützt hatten. So war es ihm ermöglicht worden, zur Schule zu gehen und zu studieren. Er war ihnen dankbar. Jetzt versuchte er, dieses Prinzip weiter zu verbreiten. Familie Mensch, davon war er überzeugt, musste sich insgesamt für ihre Kinder verantwortlich zeigen. Weltweit.

      Nach dieser Unterbrechung, in der er seinen Zuhörern erlaubt hatte, ihren eigenen Gedanken nachzugehen, erzählte er weiter, wie die Erfahrung dieser einen Nacht, in der drei Männer Ida um Hilfe gebeten hatten, ihr Leben für immer veränderte. „Ida“, so sagte er, „war in dieser Nacht nicht mehr eingeschlafen, sondern hatte nachgedacht, gegrübelt, Notizen in ihrem Tagebuch festgehalten und gebetet. Sie schrieb unter anderem:, Eine Frau hatte nicht helfen können und ein Mann, der hätte helfen können, der die nötige Ausbildung und das Engagement mitbrachte, hatte nicht helfen dürfen.`“

      Jaya überlegte, wie er die spirituelle Dimension dieser Erfahrung vermitteln konnte, und entschied, es einfach genau so zu erzählen, wie Ida selbst es erlebt haben musste und wie er es in ihren Tagebüchern, die inzwischen veröffentlicht worden waren, nachgelesen hatte. Er wünschte sich sehr, dass Ida für sie lebendig wurde, nicht einfach ein totes Vorbild blieb, und wohl noch mehr wünschte er sich, dass seine Gäste selber auch Zugang zu dieser Kraft aus einer anderen Welt fanden. Und so erzählte er: „Ida hatte in dieser Nacht den Eindruck gehabt, als sei sie Gott begegnet, als hätte er sie berührt, wie mit einem Flügel, wie mit einem Schwung für ihr Herz, sodass sie auf einmal doch bewegt war von der Idee, Medizin zu studieren, um nach Indien zu kommen und hier insbesondere den Frauen, den Kindern und den Ärmsten zu helfen.

      Am Morgen nach dieser besonderen Nacht erschrak Ida, als sie aus dem Dorf das Geräusch bestimmter Trommeln hörte. Sie wusste, das war ein Zeichen dafür, dass jemand gestorben war. Ida schickte eine der Hausangestellten, um herausfinden zu lassen, was passiert war, und auch, um sich danach zu erkundigen, was aus den drei jungen gebärenden Frauen geworden war. Sie kam zurück und musste Ida sagen, dass alle drei in der Nacht gestorben waren.

      Ida schloss sich für einige Stunden in ihrem Zimmer ein. Sie dachte über die Bedingungen nach, unter denen die Frauen Indiens leben mussten, und nach vielen Gedanken und Gebeten ging sie zu ihren Eltern und teilte ihnen ihre Entscheidung mit: Sie würde nach Amerika gehen, um Medizin zu studieren, und dann zurück nach Indien kommen, um den Frauen zu helfen. Ihr Entschluss stand fest.

      Als Ida im Jahr 1900 schließlich zurück nach Indien kam, war sie eine gut ausgebildete Ärztin. Ihr Vater starb nur einige Monate, nachdem Ida zurück in Indien war, sodass sie von Anfang an auf sich gestellt und allein verantwortlich für die Arbeit war. Und die Not in Indien war überwältigend. Auf zehntausend Menschen kam ein Arzt. Außerdem hatte sie keine Räumlichkeiten, in denen sie hätte arbeiten können. Sie ließ ein erstes Gebäude errichten, in dem Platz für zehn bis zwölf Patienten war. Die Veranda diente als Wartezimmer, ein kleines Zimmer als Behandlungsraum. Heute ist in diesem Krankenhaus hier Platz für mehr als zweitausend Patienten.“ Jaya konnte sehen, dass seine Gäste beeindruckt waren.

      „Am Anfang hatte Ida gegen das Misstrauen der Bevölkerung anzukämpfen. Ihr erster Patient war ein Mann, der todkrank war, dem sie nicht mehr hatte helfen können und der wenig später starb, sodass das Misstrauen in der Bevölkerung nur noch zunahm.

      Eines Tages aber kam ein Hindu, Angehöriger einer höheren Kaste, und ließ seine Augen von ihr untersuchen. Ida konnte ihn erfolgreich behandeln und von diesem Moment an nahm die Zahl ihrer Patientinnen und Patienten beständig zu. Aus Mitleid nahm sie immer mehr und mehr Arbeit an, sie behandelte pro Tag hundert Kranke, zweihundert, ja manchmal dreihundert. Bis heute ist es so, dass Patienten, die zu arm sind und sich keine Behandlung leisten und keine Medikamente bezahlen können, umsonst behandelt werden. Spenden von außerhalb machen es möglich, diesem Ideal nachzukommen.

      Manchmal kam es vor, dass Menschen vor Ida niederknieten, denn sie hielten sie für die Inkarnation einer Göttin. Sie selbst empfand diese Huldigung als total unangemessen und furchtbar unangenehm und flüchtete jedes Mal, wenn sie in eine solche Situation kam.

      Sie merkte, dass sie dringend Unterstützung brauchte, weil die Arbeit ihr über den Kopf wuchs

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