Seidenkinder. Christina Brudereck
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Jaya hatte Sorge, er würde direkt wieder weglaufen, deshalb ging er nicht auf ihn zu, sondern fragte ihn von dort aus, wo er stand, nach seinem Namen. „Raja“, sagte der Junge. Einem inneren Impuls folgend, fragte er weiter: „Du bist allein?“ Der Junge nickte. Um sicherzugehen, dass er die Frage auch richtig verstanden hatte, fragte er noch einmal anders nach: „Wo ist deine Mutter?“ Der Kleine sagte leise: „Sie ist tot.“ Und setzte noch hinzu: „Die anderen auch.“ Jaya spürte, dass er die Wahrheit sagte. Wer sich hinter „die anderen“ verbarg, würde er vielleicht später herausfinden. „Und wo lebst du?“ Es war eine riskante Frage, denn der Kleine brauchte sein Versteck noch und würde es ihm sicher nicht verraten. Jaya wartete gespannt und nickte anerkennend, als Raja eine Antwort gab, die wohl gleichzeitig der Wahrheit entsprach als auch klug war: „Hier“, sagte er, „auf dem Gelände.“ Jaya nickte. Das Gelände war sehr weitläufig, die Gebäude verwinkelt und der Junge war klein, er rollte sich vermutlich nachts in einer Ecke zusammen und schlief unentdeckt hinter irgendeiner der vielen Türen. Er sah aus wie fünf oder sechs, aber Jaya wollte es genau wissen und fragte: „Wie alt bist du?“
„Ich bin neun Jahre alt“, sagte der Junge. Und etwas selbstbewusster fügte er hinzu: „Ich habe am 30.Januar Geburtstag.“
Jaya betrachtete ihn aufmerksam. Er hatte also einen Jungen vor sich, der nicht genug zu essen gehabt hatte und mit seiner körperlichen Entwicklung hinter seinem Alter zurückgeblieben war, der aber wohl wusste, dass er an einem historischen Tag geboren worden war, am Todestag Gandhis.
„Was ist mit der Schule?“, fragte er offen.
Raja sah auf den Boden und sagte traurig: „Ein Jahr. Ich bin nur ein Jahr lang hingegangen. Als meine Mutter noch da war. Danach ging es nicht mehr.“
Jaya verstand. „Bist du gerne hingegangen?“
Der Junge sah ihn an und strahlte: „Ja, sehr, sehr gerne.“
Er konnte später nicht sagen, in welchem Moment genau er gewusst hatte, dass er dem Jungen einen Platz in seinem Kinderheim anbieten würde, aber als er es tat, war er sich sicher, dass Raja das Angebot annehmen würde. Und so war es auch. Er stellte sich ihm kurz vor, erzählte ihm von dem Kinderheim und lud ihn ein, sich das Haus selber anzusehen und dort zu entscheiden, ob es ein Platz sein könnte, an dem er leben wollte. Es war jetzt Mittag und die jüngeren Kinder würden gleich aus der Schule nach Hause kommen. Er könnte sie kennenlernen, mit ihnen spielen und am Abend entscheiden, ob er länger bleiben wollte.
Doktor Ranjini dachte, dass dieser Mann absolut vertrauenswürdig wirkte und dass auch der Junge das zu merken schien. Er lehnte jetzt nicht mehr an dem Türrahmen, sondern war näher gekommen und hörte dem Leiter des Kinderheims zu. Wie oft dieser wohl schon enttäuscht worden war, weil ein Kind seine Chance nicht erkannte? Wie oft so eine Begegnung vielleicht zwar zunächst vielversprechend weiterging, dann aber doch im Leeren verlief, weil ein Kind, das einmal auf der Straße und auf sich gestellt gelebt hatte, sich schwer in so ein System wie ein Kinderheim eingliedern ließ? Wie oft dieser Mann wohl schon diese Art von Gespräch mit einem Kind geführt hatte?
Jaya selbst stellte sich in diesem Moment ganz ähnliche Fragen: Wie oft bin ich schon auf diese Weise meiner Intuition gefolgt? Warum habe ich den Kleinen heute Morgen wahrgenommen, als er bei den Kerzen vor der Kapelle stand? Und warum habe ich andere Kinder dagegen wohl übersehen? Ist es Gott, der mich leitet? Wird dieser Junge seine Chance erkennen? Wird er irgendwann sagen können, dass es Glück war, ihn heute getroffen zu haben? Wird er zu den anderen Kindern passen, wird er gerne zur Schule gehen, gut lernen, fleißig sein?
Er fragte: „Kommst du mit, um dir das Ganze anzusehen?“
Raja willigte, ohne zu zögern, ein.
Jaya merkte, dass die Zeit weggelaufen war und er es nicht mehr schaffen würde, seine geplanten Besuche zu machen. Er erklärte Raja, dass sie in wenigen Minuten einige ausländische Besucher vor dem Haupteingang treffen würden, um dann gemeinsam mit dem Auto zum Heim in der Karishma-Straße zu fahren. Raja nickte und Jaya wandte sich Doktor Ranjini zu.
Sie war jetzt nachdenklich und erklärte ihm, bevor er noch etwas sagen konnte: „Ich arbeite hier als Kinderärztin in der Kinderklinik.“ Gerade hatte sie noch den Eindruck gehabt, als habe er es eilig, aber als er jetzt nicht signalisierte, dass er sich schnell verabschieden wollte, sprach sie weiter: „Wussten Sie, dass Doktor Scudder ihrer Zeit weit voraus war, auch was die Behandlung von Kindern angeht? Als sie ihre Arbeit hier begann, starb noch jedes vierte Baby bei der Geburt. Eine ihrer ersten Taten war, ein kleines Haus zu bauen für die Neugeborenen der Ärmsten, wo sie in wohnlicher Atmosphäre besondere Pflege bekamen. Eine Kinderklinik entstand und ein besonderer Trakt für Kinder mit ansteckenden Krankheiten und für Frühgeborene kam hinzu, außerdem das Therapiezentrum für behinderte Kinder.“ Sie hielt inne. „Ich wollte damit eigentlich nur sagen, dass Sie sich jederzeit an mich wenden können, wenn Sie im Kinderheim medizinische Hilfe brauchen, ich eins Ihrer Kinder untersuchen soll oder Sie irgendwie spezielle Unterstützung brauchen. Ich könnte dann natürlich auch zu Ihnen kommen, in die Karishma-Straße, um Ihnen und den Kindern den Weg zu ersparen.“
Sie hoffte inständig, dass dieses Angebot nicht zu gewagt war und er ihr nicht anmerkte, wie neugierig er sie gemacht hatte und wie gerne sie das Kinderheim sehen und ihn wiedertreffen würde. Sie wusste, sie hatte ihm Unrecht getan, als sie ihn als Globalisierungsbefürworter bezeichnet hatte. Warum hatte sie ihn so provozieren müssen? Sie wollte sich entschuldigen, das Gespräch fortsetzen, es wiedergutmachen. Sie wollte ihn kennenlernen.
Jaya bedankte sich bei ihr für das großzügige Angebot. Er überlegte, mit welchem Argument er sie überzeugen könnte, doch möglichst bald einmal vorbeizukommen, am liebsten gleich heute, als ihm eine Idee kam und er sagte: „Sie haben den Jungen ja gesehen, Raja. Er wirkt wie ein Fünfjähriger, höchstens wie sechs, ist aber schon neun Jahre alt. Wahrscheinlich ist er aus Mangelernährung nicht gewachsen. Ich wäre ihnen sehr dankbar, wenn Sie ihn sich einmal ansehen könnten.“
„Und wäre es nicht gut, ich würde ihn mir gleich heute ansehen“, fragte sie, „bevor Sie ihn aufnehmen? Nur, um zu wissen, wie es wirklich um ihn steht.“
„Wenn das möglich wäre, so spontan, wäre das wunderbar.“
Sie nickte. „Also abgemacht. Dann komme ich gegen Abend vorbei“, sagte sie. „Auf Wiedersehen.“ Sie gaben sich die Hand und sie wandte sich zum Gehen.
„Karishma-Straße Nummer sieben“, rief er hinter ihr her. „Das hellblaue Haus mit dem blühenden Oleander vor dem Tor.“
Sie drehte sich zu ihm um und sagte: „Ich werde Sie finden.“ Und damit war sie um die Ecke verschwunden.
„Ich werde Sie finden“, wiederholte Jaya für sich. Was bedeutete dieser letzte Satz jetzt genau? Und was bedeutete er in Verbindung mit diesem schelmischen Funkeln? Jaya musste lachen und schüttelte den Kopf. Mit neuen leichten Schritten ging er in Richtung Eingangshalle.
Seine Gäste waren so sehr ins Gespräch vertieft, dass sie ihn zunächst gar nicht bemerkten. Das war sicher ein gutes Zeichen; der Besuch im Krankenhaus hatte ihnen Stoff zum Nachdenken gegeben. Er stellte sich zu ihnen und hörte mit halber Aufmerksamkeit zu, wie sie über Krankenversicherungen und das Gesundheitssystem Amerikas diskutierten. Die andere Hälfte war bei Raja, der mit etwas Abstand bei ihm stand und geduldig wartete, wie es weitergehen würde. Jaya merkte, dass er ihn jetzt schon in sein Herz geschlossen hatte. Er