Seidenkinder. Christina Brudereck

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Seidenkinder - Christina Brudereck

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klein. Jaya fuhr fort: „Mohan ist kleiner als du und gleichzeitig ist er doch ein Jahr älter. Er war total unterernährt, als er zu uns kam, und es fällt ihm immer noch schwer, zu essen, er hat oft keinen Appetit; aber er wächst, langsam, und er schreibt mit die besten Noten.“

      Wie um zu beweisen, dass er dabei sein wollte, nahm Raja einen ersten Keks und eine Apfelscheibe, stopfte beides in den Mund, kaute und nahm einen großen Schluck aus seinem Teebecher. Beide mussten lachen.

      Auch um das Thema zu wechseln, sagte Jaya, dass man ihn nach dem Test in der Schule und der Untersuchung durch die Ärztin ganz offiziell und mit seinem vollen Namen und Geburtstag bei der Stadtbehörde unter der Adresse des Kinderheims anmelden würde. Er wäre dann kein Straßenkind mehr, sondern sesshaft und würde später ohne Schwierigkeiten einen Pass ausgestellt bekommen. „Wenn du das möchtest, können wir versuchen, Familienangehörige von dir zu finden und Kontakt herzustellen zu Geschwistern deiner Eltern oder auch zu deinen eigenen Geschwistern. Vielleicht werden wir bei so einer Suche keinen Erfolg haben, aber wir könnten es probieren. Nun, das hat allerdings Zeit, du musst es nicht heute entscheiden.

      Zum Tagesablauf hier im Haus kann dir Muthu gleich Näheres erklären. Am Morgen vor der Schule treffen wir uns zum Frühstück und zum Morgengebet. Am Nachmittag nach der Schule machen alle zuallererst ihre Hausaufgaben, erledigen ihre anderen Arbeiten im Haus, dann ist freie Zeit zum Spielen. Wenn Gäste da sind, werden sie von uns allen mit in den Tagesablauf hineingenommen. Nach dem Abendessen sehen wir zusammen die Nachrichten im Fernsehen und wenn es Fragen gibt, besprechen wir sie. Und vor dem Zubettgehen treffen wir uns noch einmal alle zum Abendgebet, ich erzähle eine Geschichte und bete um Gottes Segen. Dies ist ein christliches Kinderheim. Wir leben hier in Frieden zusammen, damit meinen wir nicht nur Waffenstillstand, sondern mehr eine Art entwaffnendes ganzes Glück. Lern es einfach kennen.“

      Jaya hatte jetzt alle eher formalen, äußerlichen Angelegenheiten mit ihm besprochen und hatte den Eindruck, Raja habe alles soweit verstanden. Ein letzter Punkt aber musste noch offen angesprochen werden, und der betraf die Grundregeln für ihr Zusammenleben.

      „Raja, du musst wissen, dass das Kastensystem in diesem Haus nicht akzeptiert ist. Kasten haben hier keine Bedeutung. Wir fragen nicht, aus welcher Kaste jemand kommt, wir teilen niemals die Jungen in niedrigere oder höhere Kasten ein und wir wollen auch nicht, dass ihr einander einteilt. Auch die Hautfarbe macht keinen Unterschied. Es ist nicht wichtig, ob jemand hellere oder dunklere Haut hat. Alle sind gleich viel wert und alle verdienen Respekt, alle können Freunde sein. Wir haben außerdem die Verabredung, dass wir einander nicht belügen, nicht bestehlen und nicht schlagen. Und dass wir uns entschuldigen und verzeihen, wenn wir etwas falsch machen und es einsehen. Es gibt keine Strafen, bisher haben wir keine gebraucht. Mit diesen Regeln kann Vertrauen entstehen, und das bedeutet mir sehr viel.“

      Er sah Raja offen an und fragte: „Bist du einverstanden? Können wir verabreden, dass du dich auf diese Regeln einlässt?“

      Raja nickte mehrmals ernsthaft.

      Die Stunde war schnell umgegangen und Muthu klopfte an die Tür und betrat das Büro. „Wenn du erst mal keine Fragen mehr hast, zeigt dir Muthu jetzt das Haus. Guck dir alles genau an, die Küche, den Gemeinschaftsraum, die Zimmer, den Garten. Nimm am Abendessen teil und am Abendgebet und sag, wie es dir geht, frag, wenn du etwas nicht verstehst, und teil mir irgendwann heute oder morgen deine Entscheidung mit. Danke, Muthu. Viel Spaß, euch beiden.“

      Fröhlich zogen die beiden ab.

      Jaya blieb an seinem Schreibtisch sitzen, das Gesicht in den Händen vergraben, dachte über die unglaubliche Ähnlichkeit zwischen Rajas und seiner eigenen Geschichte nach und begann, leise zu beten.

      Das Telefon klingelte unten in der Halle. Sunda, einer der beiden Erzieher, rannte, um den Hörer abzunehmen und zu antworten.

      „Jaya“, rief er durch das ganze Haus, „es ist für dich.“ Jaya fragte sich, wer das sein könnte, verließ schnell sein Büro und kam zum Telefon gelaufen.

      „Hallo, Jaya.“

      Die Stimme hätte nicht sagen müssen, zu welcher Person sie gehörte, welchen Namen sie trug, er hätte sie wiedererkannt. Jaya räusperte sich: „Danke, dass Sie anrufen, Doktor Ranjini.“

      „Bitte, nennen Sie mich doch Kala. Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, dass ich es heute leider doch nicht schaffe, zu Ihnen in das Kinderheim zu kommen. Ich werde mich aber morgen im Laufe des Tages noch einmal bei Ihnen melden, um einen Termin zu vereinbaren, damit ich mir den kleinen Raja ansehen kann.“

      Jaya nickte und erst als er merkte, dass es am anderen Ende der Leitung still wurde, realisierte er, dass sie sein Nicken nicht sehen konnte. „Ja“, sagte er. „Ja, vielen Dank. Bis morgen also.“

      Kala sagte: „Ja, bis morgen.“

      „Doktor Ranjini?“ Jayas Frage kam schnell und unüberlegt. „Ist alles in Ordnung? Oder habe ich mich in irgendeiner Weise falsch benommen Ihnen gegenüber?“

      Er höre ihr feines Lachen. „Nein, nichts dergleichen. Aber auf der Säuglingsstation herrscht das Chaos, ein paar unvorhergesehene Problemfälle sind eingetroffen und ein paar Engpässe im Personalplan tun ihr Übriges. Ich kann hier gerade einfach nicht weg.“

      Erleichtert sagte er: „Sie scheinen Ihren Beruf sehr zu lieben. Wird Ihr Mann da nicht manchmal eifersüchtig?“ Er hatte es fragen müssen, um sicherzugehen, um zu erfahren, ob sie verheiratet war und nur unverheiratet wirkte, und wartete angespannt auf ihre Antwort. „Ich bin nicht verheiratet“, kam es vom anderen Ende der Leitung. Ihre Gegenfrage stand unausgesprochen im Raum und er ersparte es ihr, sie formulieren zu müssen. „Ich bin selbst auch unverheiratet“, sagte er von sich aus.

      Sie lachte wieder und fragte scherzhaft: „Und warum hat man für einen Mann wie Sie keine Ehe arrangiert?“

      Er überlegte kurz, was und wie er es sagen sollte, und entschied sich für einen kurzen Satz: „Die Menschen scheinen schon immer gedacht zu haben, dass ich ein Typ bin, der allein zurechtkommt.“ Jaya selbst merkte erst in der abwartenden Stille zwischen ihnen, dass seine Antwort nicht eindeutig gewesen war und in zwei Richtungen interpretiert werden konnte. Er ärgerte sich über seine Formulierung, sie kam ihm unfair vor, als wolle er ihr Rätsel aufgeben, und sagte schnell: „Ich meinte damit, dass ich mich, entgegen allen Traditionen, wohl auch um diese Frage selbst kümmern muss.“

      Sie spürte, dass in dieser Antwort viel Humor und gleichzeitig die Wahrheit lag, viel Einsamkeit wahrscheinlich obendrein. Sie entdeckte sich selbst in seiner Antwort wieder. Eine neue Art der Nähe zwischen ihnen war spürbar. Sie gaben beide einen zustimmenden Seufzer von sich und verabschiedeten sich voneinander.

      „Bis morgen“, sagte Jaya und wiederholte noch ein paar Mal, auch als sie schon längst aufgelegt hatte, ihren Namen.

      „Bis morgen, Kala.“

      Am Abend, nach dem Essen, alle Hausaufgaben waren erledigt, das Geschirr wieder gespült und die Tische wieder sauber, der Boden gefegt, spielten die Jungen in ihren Zimmern. Die Gäste hatten ihnen mehrere Sets Mikado mitgebracht und jetzt saßen sie jeweils zu viert oder fünft auf dem Boden und übten sich in Geschicklichkeit.

      Raja spielte mit und als er eine Spielrunde gewann, strahlte er über das ganze Gesicht. Das Großartige an diesem Moment des Erfolgs aber war, dass sich, wie bei jedem anderen auch, die anderen Jungen alle mitfreuten, ihm auf die Schulter schlugen, gratulierten, ihn lobten. So ging das jetzt seit über einer Stunde und einer der Gäste, der Journalist, der die Kinder beim Spielen

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