Seidenkinder. Christina Brudereck

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Seidenkinder - Christina Brudereck страница 10

Seidenkinder - Christina Brudereck

Скачать книгу

neuen Jungen einholte.

      Kapitel 5

      Matt saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und starrte jetzt schon seit einer halben Stunde vor sich auf die Wand. Er wusste, dass er bald nach Indien reisen würde, im Mai, wenn Tom mit der Schule fertig sein würde. Ja, er war sich sicher, dass er Tom mitnehmen würde und diese Zeit für ihre Vater-Sohn-Beziehung von großer Bedeutung sein würde. Er war sich inzwischen auch darüber im Klaren, dass seine Mutter in Verbindung mit dieser Reise irgendeine Bitte an ihn hatte und es ihr aus irgendeinem Grund sehr viel bedeutete, dass er dorthin reisen würde. Sie würde es ihm sicher bald erklären, noch aber, das spürte er, war sie nicht so weit. Sie blieb in diesen Tagen oft allein in ihrem Zimmer, saß in ihrem Sessel am Fenster und schrieb, wirkte nachdenklich, in sich gekehrt und doch alles andere als schwermütig, eher euphorisch. Blieb nur noch Amy. Er verstand nicht, warum seine Frau sich seiner Idee, zu reisen, so total versperrte, und es machte ihn traurig und hilflos, dass es scheinbar keinen Schlüssel gab, damit sie sich seinen Plänen mehr öffnen könnte. Er rieb sich mit beiden Händen über sein Gesicht, verdrängte das Gefühl der aufkommenden Kopfschmerzen und machte seinen Laptop an.

      In den nächsten zwei Stunden surfte er durch das weltweite Netz. Dank verschiedener Suchmaschinen fand er auf Anhieb einige Seiten mit genau den Informationen, die er suchte. Er las gebannt. Die Berichte über die Staudammprojekte fielen sehr unterschiedlich aus, je nachdem, ob sie von Regierungskreisen, Baufirmen, Ingenieuren oder Umweltorganisationen geschrieben waren. Er las alles, bis er nach einer Weile zunehmend den Eindruck bekam, jetzt zwar eine Menge Wissen angesammelt zu haben, aber noch lange keine Weisheit, wie mit diesen Informationen umzugehen sei. Als er gerade aufgeben wollte, stieß er auf einige Berichte über Arundhati Roy, eine indische Schriftstellerin und Aktivistin, die mit ihrem Buch „Der Gott der kleinen Dinge“ einen Bestseller geschrieben hatte, der inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt worden war und internationale Beachtung erhalten hatte. Eine Frau, die für die Rechte der Armen kämpfte, sich dabei schon mit den Allergrößten angelegt hatte, die immer wieder mal im Gefängnis landete und unter Druck geriet, weil sie zum Beispiel die Methoden der Staudammfirmen entlarvte und nicht müde wurde, darauf hinzuweisen, dass weder die weggeschwemmten Dörfer im Norden noch die Trockenheit im Süden des Landes Schicksal, Karma, waren, sondern hausgemacht.

      Das war, was er suchte. Ohne lange nachzudenken, bestellte er einige Bücher von ihr und fand, bevor er sich dann ausloggte, ein Zitat, das ihn sehr berührte und das gleich auf mehreren Ebenen in seine Situation hineinzusprechen schien. Er kopierte die klaren, herausfordernden Worte der jungen Aktivistin, druckte das Zitat auf einem weißen DIN-A4-Blatt aus, hängte es gut sichtbar über seinem Schreibtisch auf und las es wieder und wieder durch, bis er sich sicher war, dass er es auswendig konnte:

       „Liebe. Und lass dich lieben. Vergiss niemals deine eigene Bedeutung. Gewöhn dich nie an die unsagbare Gewalt, die Gemeinheit und Verzweiflung um dich herum. Such Freude und Schönheit noch in den dunkelsten Orten. Vereinfache nicht, was komplex ist, und verkompliziere nicht, was einfach ist. Respektiere Stärke, aber nicht bloße Macht. Beobachte. Und versuch zu verstehen. Sieh nicht weg.“

      Er surfte weiter. Bald merkte er, dass die Staudämme zwar ein großes Thema waren, dass es aber eine ganze Reihe anderer dringender Herausforderungen gab, denen sich Indien gegenübersah oder denen es ausgeliefert war - so wirkte es manchmal. Die schlimmste Bedrohung ging vielleicht von der schnellen Verbreitung von Aids aus.

       HIV ist in Indien außer Kontrolle. Nach Angaben von Experten hat Indien Südafrika als das Land mit den meisten Aidskranken oder HIV-positiven Patienten überholt. Die Epidemie habe sich so rasch ausgebreitet, dass Indien „aufwachen“ und das Problem ernst nehmen müsse. Anderenfalls würden Millionen Menschen sterben.

      Er las, dass Indien auf Druck der Welthandelsorganisation wohl seine Gesetze zum Patentrecht für Medikamente würde ändern müssen. Tja, dachte er, ganz der Anwalt, ein Patentrecht macht natürlich Sinn, es schützt die Ansprüche derjenigen, die etwas erfinden und zum Beispiel viel Zeit und Energie in die Forschung investiert haben. Aber im Zusammenhang mit Aids kam doch die Frage auf, ob man mit der Behandlung dieser Krankheit überhaupt noch Geld verdienen durfte. Er schüttelte den Kopf: Multikonzerne wachen über ihre Patentrechte. Wer überwachte eigentlich die Wächter? Hatte der Markt seine Grenzen? Und wer dürfte die festlegen?

      Matt reiste durchs Internet, vor seinen Augen entstanden Bilder, er las sich in das Land hinein, das er bald besuchen würde. Er versuchte, sich vorzubereiten, heranzutasten, und fragte sich: Was bedeutet es, wenn man als Nation größte Armut erlebt und technischen Fortschritt? Den Tsunami erlebt und Dürrekatastrophen, Hungertote? Was, wenn man das HI-Virus nicht unter Kontrolle bekommen würde? Und wer würde sich dafür eigentlich verantwortlich zeigen? Welche Rolle spielten die Religion und die Religionskonflikte, Terror und Gewalt, die Auseinandersetzungen mit Pakistan? Wie lebte eine Atommacht mit unzähligen Slums wie Kalkutta? Wie hielt man die Gegensätze aus und den täglichen Kampf der vielen ums Überleben? Das Zitat von Arundhati Roy gab ihm irgendwie Kraft, vielleicht weil die Worte so stark waren oder die Frau, die sie sagte.

      Er hatte großen Respekt vor Menschen wie ihr. Vor Frauen und Männern, die sich nicht einschüchtern ließen. Die wussten, warum sie morgens aufstanden. Die eine tiefere Ahnung von Sinn und von Frieden gefunden hatten. Die etwas Bedeutendes taten, und wenn es auch noch so anstrengend war. Die Widerstand auslösten und damit etwas schafften, was zunächst einmal das System störte und auf Dauer die Chance hatte, echte Veränderung, etwas Gutes für diese Welt, zu bewirken.

      Er fragte sich, was diesen Menschen die Kraft gab, durchzuhalten? Bei dieser Frage dachte er an eine E-Mail, die er vor einigen Tagen von einer Bekannten bekommen hatte, die als Ärztin für verschiedene Hilfsorganisationen arbeitete; sie hatte viel von der Welt gesehen, meistens die kaputten, umkämpften Regionen. Er wusste, dass sie zuletzt in Afghanistan gewesen war. Ihre letzten Mails hatten aufgewühlt, traurig, überarbeitet und müde geklungen. Aber ihre letzte Nachricht hatte ganz überraschend einen vollkommen anderen, neuen Ton gehabt.

      Total verzweifelt war sie in ihre Heimat nach Deutschland zurückgekommen. Afghanistan war eine Erfahrung, die sie innerlich fast ausgehöhlt hatte. Das vom Krieg zerstörte Land, die Angst auf allen Seiten, die Begegnungen mit Kindern, Soldaten, Kranken verfolgten sie bis in ihre Träume. Diesmal wollte sie aufgeben, sie konnte nicht mehr. Sie beriet sich mit ihrem Mann. Mit ihren Freunden, viele davon selbst Ärztinnen und Ärzte. Sie alle sagten: Was wir brauchen, ist ein Zeichen! Eine kleine Bestätigung, dass richtig ist, was wir tun. Einen Wink von Gott, einen Fingerzeig.

      Sie trafen sich, um zu diskutieren und irgendwann, zu müde zum Reden, um zusammen zu schweigen. Und dann fingen sie an zu beten. Acht Leute, Freundinnen und Freunde. Sie beteten sich alles von der Seele, die Ohnmacht, die Wut, die vielen kleinen Geschichten. Alles. Und dann war etwas Merkwürdiges passiert. In dem Moment, als sie ihre Gebete beendet hatten und gerade ihre Köpfe hoben, sahen sie auf der Brüstung des Balkons, direkt vor ihnen, eine weiße Taube sitzen. Sie hatten wohl alle ungläubig geguckt und den Atem angehalten, um sie ja nicht verschrecken. Sie fragten sich: Wo kommt die denn her? Irgendwo in der Stadt gab es graue Tauben auf dem Marktplatz. Aber weiße?

      Die Taube war das erhoffte Zeichen. Sie bedeutete alles: Frieden. Durchhalten. Kraft. Erhörte Gebete. Neue Freude. Wunder. Matt verstand, dass der neue lebensfrohe Ton, die neue Leichtigkeit von dieser Erfahrung genährt wurden. Diese Taube hatte ihr Kraft gegeben, neue Hoffnung. Für sie war das kein Zufall, es war eine Antwort auf ihr Gebet. Klein, heilig und nicht wegzudiskutieren. Es bedeutete, sie würde weitermachen. Das freute ihn sehr für sie und er spürte die Energie, über Meilen hinweg, über Kontinente, kam sie bei ihm an.

      Er

Скачать книгу