Seidenkinder. Christina Brudereck
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Sie setzte sich auf ihren Lieblingsplatz, die Treppen vor ihrem Haus. Ornamente und gemahlenen Reis gab es hier nicht. Aber sie hatte einige Niemblätter auf den Stufen ausgebreitet, grüne und einige junge kleine Blätter, die bei diesem Baum rötlich, pink waren. Mit dem Niembaum verbanden sich viele alte Geschichten, dem Baum, seinen Blättern, seinen weißen Blüten und dem Öl seiner Früchte wurden magische Kräfte zugeschrieben, ja manche meinten auch, dass im Niembaum ein Gott wohne. Früher hatte sie gesehen, wie ihre Tante und die anderen Frauen Niemblätter in ihre Kleider nähten und sich davon eine Art übermenschlichen Schutz versprachen. Für Priya war ein Baum ein Baum, kein Gott. Aber sie wusste auch, dass hinter den alten Riten oft nicht einfach ein naiver Aberglaube steckte, sondern etwas Wahres oder eine alte Weisheit. Sie wusste, dass sie nicht wie ihre Tante mit einer unbestimmten Angst vor den Göttern leben wollte, ständig darum bemüht, Geister und Kräfte zu beruhigen oder durch bestimmte Riten für sich zu gewinnen. Dennoch, sie wollte immer gerne herausfinden, ob mit einem Ritual eine hilfreiche Erkenntnis verbunden war, und war immer bereit, zu glauben, dass hinter einer Tradition etwas zum Vorschein kam, das dem Leben diente. Und wenn diese Entdeckung ihren eigenen spirituellen Auffassungen nicht widersprach, würde sie die Erkenntnisse, ihre tiefe Weisheit, vielleicht sogar die Rituale dann auch gerne bewahren.
So hatte sie als Erstes entdeckt, dass der Niem gegen Bakterien und Viren wirkte, und sie hatte schon damals, als ihre Kinder noch klein waren, ihren Husten damit gelindert. Oder einmal hatten ihre Kinder und die des weißen Missionars auch alle miteinander Kopfläuse gehabt und sie hatte ein bestimmtes Gemisch aus den Blättern und dem Öl des Niems genommen und die kleinen Insekten damit besiegt.
Ihr Sohn Jaya war ein echter Gärtner. Hier, rund um ihr kleines Haus und auch in dem Garten hinter dem Kinderheim, erst recht aber auf dem großen Gelände in den Bergen, wo das Kinderhilfswerk ein Camp führte, hatte er schon oft bewiesen, dass er geschickt war im Umgang mit Grün, im Aufziehen von Bäumen und im Züchten von verschiedenen nützlichen Pflanzen. In den Bergen gab es Obstbäume, Orangen, Mangos, Feigen und Granatäpfel, es gab Bohnen, Erbsen, Okra, Kartoffeln, Kräuter wie Petersilie, Thymian, Salbei, Koriander, kleine Beeren, rote und schwarze Johannisbeeren, sogar Kaffee und ein Meer aus Blumen, die jeweils zu ihrer Zeit dem Camp seine Farbe verliehen. Jaya hatte ihr erklärt, dass er das Öl aus dem Niemsamen zur Schädlingsbekämpfung nutzte und als Dünger. Er hatte sie aufgefordert, die alte Tradition, Niemblätter um das Haus zu verteilen, weiter fortzusetzen.
Auf ihre ängstliche Frage, ob er glaube, dass der Niembaum göttliche Macht habe, hatte er sie kurz umarmt und dann geantwortet: „Gott hat göttliche Macht - und ist ein weiser Schöpfer aller Bäume und ein großzügiger Erfinder vieler wunderbarer Geheimnisse, die das Leben unterstützen. Und es ist sehr aufregend, wenigstens einige von ihnen zu entdecken.“ Sie stimmte ihm zu.
Jetzt wartete sie auf ihn. Sie nahm eins der kleinen rosafarbenen Blätter in die Hand und zupfte daran, roch den Geruch an ihren Fingern, legte es wieder aus der Hand. Sie freute sich darauf, die Gedanken dieses Tages mit Jaya zu teilen. Wie, um sich besser auf ihn vorzubereiten, überlegte sie schon einmal, was er wohl an diesem Tag erlebt hatte, welchen Menschen er begegnet und an welchen Orten er gewesen war.
Kapitel 4
Wie verabredet hatte Jaya seine Gäste an diesem Morgen direkt vor dem Eingang des großen Krankenhauses in Vellore getroffen. Die Einrichtung war keine normale Touristenattraktion, diese Klinik war ein Zeugnis wahrer Liebe und Jaya kam gerne hierhin, um Besucherinnen und Besuchern aus Europa oder Amerika die Geschichte ihrer Entstehung zu erzählen. Jaya grüßte in die Runde. Die eigentlichen Freunde und Unterstützer der Pattu-Stiftung, die das Kinderheim trug und darüber hinaus mehrere hundert andere Kinder im Süden Indiens unterstützte und soziale Projekte initiierte, kamen aus Singapur, wo er studiert hatte, und aus Deutschland, eine Verbindung, die auf ganz eigenen Wegen zustande gekommen war. Diese vier Männer waren Amerikaner, ein Arzt, ein Lehrer, ein Journalist und ein Pfarrer, eigentlich Freunde seiner Freunde aus Singapur. Er hatte sie vor drei Tagen am Flughafen in Chennai in Empfang genommen, hatte sie gestern Abend in seinem Zuhause empfangen, bot ihnen für eine Woche seine Gastfreundschaft an. Einer von ihnen, der Lehrer, war bereits vor zwei Jahren einmal hier bei ihnen zu Besuch gewesen. Für drei von ihnen war es der erste Besuch in Indien. Sie wohnten im Kinderheim, in den Gästezimmern, die genau für solche Gelegenheiten gebaut worden waren, in der zweiten Etage des Hauses, jeweils mit eigenem Bad und westlicher Toilette.
Er selber hatte keine Pläne mit diesen Besuchern, verband keine Ambitionen oder Wünsche mit ihnen, hatte sich aber seinen Freunden aus Singapur zuliebe dazu bereit erklärt, sie für eine Woche zu empfangen, ihnen die Arbeit der Stiftung vorzustellen und daneben auch etwas von Indien zu zeigen. Die vier hatten sich gestern ausgeruht, hatten versucht, sich an die Wärme zu gewöhnen, an die Zeitumstellung und das ungewohnte Essen. Heute waren sie wohl bereit, sich weiteren Herausforderungen Indiens zu stellen.
Jaya zeigte hinter sich auf das große, eindrucksvolle Gebäude und sagte: „Willkommen in einem der größten Krankenhäuser Indiens. Ich nenne diese Klinik und alles, was dazugehört, einen Ort des Segens, denn das ist sie. Es ist ein Ort des Heils und der Inspiration. Sie hat vor inzwischen mehr als hundert Jahren einmal klein begonnen, wie so manche Initiative, aber sie entwickelt sich ständig weiter, bis heute. Kommt bitte und seht selbst.“
Jaya ging der Gruppe voran, um aber nach ein paar Metern direkt wieder stehen zu bleiben, vor einem Bild der Gründerin des Krankenhauses, Doktor Ida Scudder. Hier begann er zu erzählen: „Ida Scudder hatte als junge Frau eigentlich nur einen Traum. Sie wollte glücklich sein, ein schönes Leben in Amerika führen, Indien so schnell wie möglich den Rücken kehren und einen Millionär heiraten.“
Jaya lächelte und fragte sich, wie viele junge Menschen auf dieser Welt, ob in Amerika oder Indien, wohl diesem Traum nachhingen, und fuhr dann fort: „Idas Eltern lebten als Missionare hier in Tamil Nadu. Ihr Vater engagierte sich als Arzt und so war sie dazu gezwungen, das indische Leben zu teilen. Sie aber war es leid, Missionarstochter zu sein. Wahrscheinlich“, sagte er mit einem Grinsen, „machte ihr auch die Hitze zu schaffen.“
Dieser letzte Satz war nur ein Zugeständnis an seine Gäste, die schon jetzt, am frühen Morgen, wieder schwitzten. Jaya lächelte sie an, er war die Wärme gewohnt. Die drei lächelten, solidarisch mit der jungen Ida, die die Hitze vielleicht genauso wenig hatte leiden können, wie sie selbst es offensichtlich taten.
Jaya nahm den Faden wieder auf: „Ida hatte damals wohl einfach das Gefühl, das Leben zu verpassen. Sie muss ihren Vater sehr bewundert haben, war aber davon überzeugt, niemals selber so leben zu können wie er.“ Jaya löste sich von dem Anblick des Bildes, ging weiter und betrat die Eingangshalle der Klinik, blieb einen Moment stehen, um die Größe, die Hektik, das Vorbeieilen der vielen Menschen auf sie alle wirken zu lassen, und ging dann geradeaus auf die Kapelle zu.
Aus den Augenwinkeln nahm er einen kleinen Jungen wahr, der die Kerzen vor der Eingangstür zur Kapelle sortierte. Er sah ihm einen Moment lang fasziniert zu, wie er die Reste flüssigen Wachses aus mehreren heruntergebrannten Teelichten in einem der kleinen Becher aus Aluminiumfolie sammelte. Wie konzentriert er arbeitete. Ob ihm jemand aufgetragen hatte, das zu tun, oder ob er von sich aus auf die Idee gekommen war? Er nahm sich vor, später im Gespräch mit jemandem vom Klinikpersonal danach zu fragen.
Jetzt