Seidenkinder. Christina Brudereck

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Seidenkinder - Christina Brudereck

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irgendwie darauf reagieren sollte. Aber seine Mutter war ein zutiefst gläubiger Mensch. Vielleicht müsste man sagen, dass sie eigentlich an die Menschen glaubte und darauf vertraute, dass Gott es auch tat. Einige seiner besten Freunde waren religiös und auch viele der Weltverbesserer - das Wort hatte für ihn seinen positiven starken Klang behalten, auch wenn es über die Jahre Amys spöttischer Spitzname für ihn geworden war - waren offensichtlich motiviert von großen Ideen wie Gerechtigkeit, Frieden, Liebe und Gütekraft, Ideen, die so heilig waren, dass Gott scheinbar fast unweigerlich darin mitschwang. Er wusste, dass er mit dieser Frage noch nicht endgültig abgeschlossen hatte. Gott, dachte er, wie sollte man mit Gott fertig werden, dem Größten, was ein Mensch wohl überhaupt sagen konnte?

      Kapitel 6

      Sie machten sich alle gemeinsam auf den Weg zum Kinderheim. Der Wagen war voll klimatisiert, was die Gäste sehr zu schätzen wussten. Jaya aber sah, dass Raja schon nach ein paar Minuten zu frieren begann. Sie kamen nur sehr langsam vorwärts. Jaya sah aus dem Fenster. Die Straßen, in anderen Ländern den Autos vorbehalten, wurden hier mit allen geteilt und waren voller Menschen. Alte, Erwachsene, Kinder, Babys, Kranke an Krücken. Sandalen, Saris, Turbane. Rufen, Hupen, Winken, Betteln. Mittendrin immer wieder mal eine Kuh. Es roch nach Hitze, nach Schweiß, Knoblauch, reifen Mangos, die am Straßenrand verkauft wurden, frisch geschält. Indien war ein volles Land. Ihr Auto kam immer wieder zum Stehen.

      Die Gespräche waren verstummt. Alle sahen jetzt aus dem Fenster und konnten sich nicht losreißen von den vielen Eindrücken. Am Rand der Straße befanden sich kleine Läden, Blechhütten, die vor die Häuserfront gesetzt waren und in denen Lebensmittel verkauft wurden und Drogerieartikel, ein buntes Gemisch aus Bananen, Avocados, Kokosnüssen, Kaugummi, Blumengirlanden, Hautcreme, Zahnpulver, Schuhputzcreme, Bonbons, Kuchen, kleinen Tüten mit Kräutermischungen oder Tabak, Kaffee und Tee. Frisch geschlachtete Hühner hingen an Haken von der Decke eines muslimischen Ladens. Die Gemüsestände führten zurzeit nur Kartoffeln, Mais und Zwiebeln und Gewürze wie Chili, Pfeffer, Ingwer, Koriander und Zimt. Dazwischen fand sich auch der ein oder andere Shop, in dem Videokassetten verkauft wurden, CDs, kleine Radios und Filme für die Kameras der Touristen. Direkt daneben Stoffe und Sandalen. Nur auf dem Bazar und dem Markt ging es noch bunter und hektischer zu.

      Raja war der Einzige im Wagen, der nicht aus dem Fenster sah. Sein Blick ging von einem zum anderen und blieb dabei immer wieder an kleinen Details hängen. Interessiert betrachtete er die weißen Ausländer. Die schwarzen festen Schuhe, die auf ihn, der sein Leben lang barfuß gelaufen war, wie Särge für die Füße wirkten. Die Uhr am Arm des einen, von der er nicht so ganz genau wusste, wie man sie entziffern konnte, der aber sogar er ansehen konnte, dass sie viel Geld gekostet haben musste. Die Hosen, die sie trugen, ohne jede Bügelfalte und mit vielen kleinen Taschen besetzt, die ein komisches Geräusch machten, wenn man sie öffnete, wie ein hartes Rascheln. Ihre Haut und die Farbe ihrer Augen, ihrer Wimpern, ihrer Lippen, ihrer Fingerkuppen. Besonders der eine wirkte auf ihn, als sei die Farbe aus ihm ausgelaufen, so hell waren seine Haut und seine Haare. Raja sah sich seine eigenen Hände an, die Innenflächen waren etwas heller, ansonsten war er überall dunkel.

      Er sah zu dem Mann hinüber, zu dem Inder, der ihn angesprochen und eingeladen hatte. Er hatte bemerkt, man nannte ihn Jaya, aber er wusste noch nicht, wie er ihn ansprechen sollte. Er war sehr dunkelhäutig, klein und hatte einen Bauch. Er lachte viel, und auch wenn sein Mund einmal nicht lächelte, dann strahlten doch immer noch seine Augen. Er mochte ihn. Er wusste nicht genau, was gerade mit ihm passierte, aber er ahnte, dass dieser Mann ihm Glück brachte.

      Er hatte ihn am Morgen gesehen, als er mit den Weißen zusammen in die Kapelle der Klinik kam. Der Andachtsraum, sein Zuhause. Er schlief unter dem großen Tisch, über dem immer eine Decke hing, die bis auf den Boden reichte, sodass niemand sehen konnte, dass sich jemand darunter verbarg. Die Kapelle roch gut und sie war ruhig. Nachts wurde die Tür verschlossen, sodass er sich wirklich sicher wusste, wie in einem eigenen Haus.

      Tagsüber sortierte er die kleinen Kerzen in ihren Aluminiumbechern, die man am Eingang der Kapelle kaufen und aufstellen konnte. Die meisten Lichter brannten aus, bevor ihr Wachs ganz verbraucht war, oder wenn er ganz viel Glück hatte, ertrank die Flamme, weil der Docht zu kurz war. Von solchen Kerzen sammelte er das Wachs, goss es, solange es noch flüssig war, in einen der leeren Becher, wartete, bis die Kerzen trocken waren, und verkaufte sie dann. Das war doch eigentlich kein Diebstahl, sagte er sich, sondern eine ganz vernünftige Verwertung von Resten, von dem, was die Schwester, die die Kapelle säuberte, sonst ohnehin nur wegwerfen würde. Er aber konnte sich mit den Kerzen ein bisschen Geld verdienen, meistens gerade genug für einen Tag. So jedenfalls hatte er die letzten Jahre irgendwie überlebt.

      Sie hielten an einer Kreuzung an. Ein Polizist regelte den Verkehr und winkte jetzt eifrig, damit sich die Linksabbieger in Bewegung setzten. Er trug ein Tuch vor dem Mund, um sich vor den Abgasen zu schützen, darunter blies er immer wieder in seine Trillerpfeife, die ein schrilles Geräusch von sich gab, aber für so einen Ordnungshüter, eine Staatsautorität, zu sehr an Kindergeburtstag erinnerte. Niemand wollte mit ihm tauschen.

      Rechts am Straßenrand - nur die eine Hälfte derer, die im Auto saßen, konnten die Szene sehen, aber die konnten nicht daran vorbeischauen - saß ein Mann, nur mit einem Lunghi bekleidet, der nackte Oberkörper ausgezehrt, man konnte jede einzelne seiner Rippen sehen. In seinem linken Arm hielt er ein ganz junges Baby, auf dessen Augen Fliegen saßen. Der Mann versuchte, die Fliegen mit seiner rechten, freien Hand zu verjagen, aber man sah ihm an, dass seine Muskeln zu müde waren. Die Fliegen hatten mehr Ausdauer als er, er war schwächer. Er wirkte wie betäubt, übermüdet, erschöpft. Hin und wieder hob er seine Hand hoch, mit einer bettelnden Geste, aber niemand legte eine Münze in die offene Handfläche. Dann wieder ging seine Hand zum Gesicht des Babys.

      Jaya sah auf die Gesichter seiner Gäste und konnte ihre Fragen dort lesen: Was wird aus den beiden? Wer stirbt zuerst? Wie lange wird der Vater sich noch um sich selbst und das Kind kümmern können? Wo ist die Mutter? Wie viele solcher Menschen gibt es in diesem Land? Wo soll man anfangen? Wie könnte man helfen? Eingreifen in ein Rad aus Armut und Chancenlosigkeit? Den Teufelskreis unterbrechen? Wie? Da fuhr der Wagen an und sie wurden weggebracht von diesem Anblick, einem Augenblick voller Fliegen, die stärker waren als ein Vater.

      Der Fahrer lenkte sie sicher und mit viel Hupen durch die Straßen, bis sie in ein Viertel kamen, in dem es ruhiger wurde. Auf der rechten Seite lag das große Gelände der Don-Bosco-Schule. Für die meisten Jungen war der Unterricht zu Ende und man sah jede Menge Kinder, die in unterschiedliche Richtungen auseinandergingen, sich Bälle zuwarfen, um die Wette liefen, sich voneinander verabschiedeten und winkten. Die unterschiedlichen Jahrgänge, je nach Alter und Klasse, waren für jeden an der jeweiligen Farbe des T-Shirts zu erkennen, Rot, Gelb, Blau und Grün, immer mit weißem Kragen, das neben der schwarzen Hose die Schuluniform ausmachte. Jetzt sah auch Raja aus dem Fenster, mit großen, neugierigen und neidischen Augen.

      Jaya erklärte an seine Gäste gewandt: „Die meisten unserer Kinder besuchen diese Schule. Sie ist recht groß, aber sehr gut. Die Lehrerinnen und Lehrer sind engagiert, geleitet von der Pädagogik von Don Bosco. Ja, die Schule überzeugt mich. Unsere Kinder lernen gerne und sie bringen gute Ergebnisse mit nach Hause, nicht nur in Mathematik oder Englisch, auch in Sport und Musik. Wenn ich die Entwicklung unserer Kinder betrachte, bin ich froh, so eine renommierte Schule in der Nähe zu haben und sie hierhin schicken zu können.“

      Die Gäste nickten und einer, der Lehrer, meinte: „Don Bosco in allen Ehren, aber die Entwicklung der Kinder im Pattu-Heim hat ganz sicher noch viel mehr mit dir zu tun, mit deiner Art, mit der Atmosphäre, die du dort schaffst, mit der Liebe, die du schenkst, du und das ganze Team.“

      Jaya hörte die Anerkennung in diesen Worten

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