Majdanek. Mordechai Strigler
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Fliehen! Fliehen!
Wie mechanisch wiederholen die Lippen das Wort aus Furcht vor etwas Schlimmerem als dem Tod.
Niemand hat einen klaren Plan, wohin. Selbst wenn es gelänge, von der Arbeit hinaus in die Freiheit zu entkommen, würde auf der Straße der erstbeste Pole dich verraten. Vor dem geistigen Auge erhoben sich die jungen heldenhaften Männer aus verschiedenen Lagern, die es geschafft hatten, sich die ganze Strecke bis zu den Zwierzyniecer Wäldern durchzuschlagen, um sich den polnischen Partisanen anzuschließen, und deren tote Körper später, nach etlichen Tagen, gefunden wurden, nackt oder mit einem zurückgelassenen Lumpen am Leib, präsentiert auf einem kleinen Steg oder beim Wäldchen mit einer kleinen polnischen Notiz, die sich brüstete:
Gefallen, aber nicht von deutscher Hand.
Doch das bisschen bebendes Leben will nichts wissen von Abwägungen. Man spürt, das jetzt und hier alles enden wird und der letzte Tropfen warmen Blutes schlägt hastig Alarm an alle Türen der Gedanken: Such! Tu etwas! Auf wen wartest du? Man wird zerrissen zwischen dem instinktiven Trieb, der alle Glieder wachrüttelt und die Gefahr meldet, die über allen Köpfen schwebt, und dem nüchternen Verstand, der entschlossen urteilt: Nichts zu machen! Versperrt sind alle Auswege, der Tod hat sich überall häuslich niedergelassen! So ereifert man sich und packt den ganzen kleinen Rest nervöser Energie in die Pläne, in die Debatten über Rettung, Weglaufen und das rächende Partisanendasein. Aber man weiß selbst, dass man gar nichts tun wird, dass man so lange warten wird, bis das, was kommen muss, mit aller Kraft an das Lagertor schlägt. Alles wird ruhig ablaufen, wohin auch immer die helmbewehrten Botschafter des Todes uns hinzubringen wünschen. Man will aber gerade diese innerste Gewissheit übertönen und betäuben, man schämt sich vor sich selbst zuzugeben, dass man schon längst mit dem Schicksal Frieden geschlossen hat. Man tuschelt so lange herum, bis die eigene mahnende Stimme in der Tiefe schläfrig und müde wird. Bis alles ausgeredet ist, was es zu bereden gegeben hat, und jeder Einzelne sich wieder in seinen eigenen stinkenden Winkel verkriecht, genau wie gestern, genau wie vor einer Woche.
Von irgendwoher brachte jemand einen vertrauenswürdigen Termin: am 31.! Mit Schwertesschärfe schnitt es allen ins Bewusstsein: am 31.! am 31.! Mit wortlosem Gebet erflehte jeder Einzelne vom eigenen Herzensgrund, vom letzten Brocken Verstand oder von der bleichen Silhouette des klügeren Freundes: Hilf mir! Gib mir einen Rat! Aber alles war verstummt, das eigene Herz war leer bis auf den Grund und auch die Weisheit des Freundes war gelähmt.
Man geht tagsüber wieder zur Arbeit und kommt nachts zurück in die verlausten Baracken. Man isst schweigend und schaut lange, sehr lange einer den anderen an, dann fällt ein Wort, ein Satz nur, in dem alle Reden und alle Pläne eingeschlossen sind:
Schon der 29.!
Der 30.!
Man war ermüdet davon, Tag um Tag den Schrecken in den Gliedern und in den Augen wachzuhalten. Man wartete nur noch − auf nichts mehr wartend.
Und eine Nacht begann, wie alle Nächte im Lager. Verräuchert vom Barackenofen, gepeinigt vom Monatsende. Nur das Entsetzen, versteckt im tiefsten Winkel des Herzens, warnte mit ersticktem Mund ein letztes Mal zaghaft:
Die Nacht zum 31.!
II
Gegen 12 Uhr in der Nacht trug es alle hinüber in eine andere Welt. In dieser Nacht kamen nicht einmal die ukrainischen Wachposten betrunken in die Schlafbaracke herein. Sie vergaßen sogar, ein fröhliches Spektakel in der benachbarten Frauenbaracke zu inszenieren. So hatte jeder die Gelegenheit, sich im Traum zu holen, was das wahre Leben ihm genommen hatte. Aber die heutige Ruhe ist eigenartig verdächtig und unangenehm. Es ist zu ruhig. Das Herz war schon so an den »normalen« nächtlichen Schrecken der einfallenden betrunkenen Wachposten gewöhnt, dass es fast zu einer Art betäubender Sucht geworden war. Im Angesicht derer, in deren Händen du vogelfrei bist, beginnt das schläfrige bisschen Leben von neuem, in den Gliedern zu pochen, du spürst eine zappelnde Angst vor etwas; doch dabei freut sich etwas in dir, das tiefer ist als du selbst, weil du dadurch gleichzeitig erkennst, dass da noch etwas ist, dass du noch etwas besitzt, um dessentwillen du zittern musst, mit dem du vorsichtig umgehen musst.
In der Einsamkeit wird die ständige Furcht der einzige Wecker des erstarrten Lebens. Die reale dröhnende Angst wird dir vertraut wie ein Freund. Und jetzt, da es so still ist, entsteht gleichzeitig eine Leere um dich herum. Es fehlt etwas. So als sehntest du dich danach, die Gefahr zu fühlen, die von einem nahebei lauernden Gewehr eines Betrunkenen ausgeht. Die Hilflosigkeit wird ohne den allnächtlichen grausamen Trubel noch entsetzlicher.
Das erschrockene Schnarchen müden Atems sägt sich knirschend in die Stille der dunklen Baracke. Nur noch hier und da sitzt ein gebeugter Schatten auf der Bettkante, in Gedanken versunken, dabei gar nichts denkend.
Ein Schatten von gegenüber winkt meinem zu:
Motl?
Ein Wortbrocken löst sich von meiner müden Trägheit:
Was ist?
Und wieder wird ein leises Wort zu mir herübergetragen, auf dem Rücken eines verschlafenen Krächzers meines Bettnachbarn:
Warte!
Der dürre Körper meines Nachbarn wiegt sich über mir mit einer fremden Unruhe. Seine großen, unruhigen Augen dringen in mich ein bis in die tiefsten Tiefen. In der Dunkelheit haben sie einen gespenstischen, irren Glanz. In meiner diffusen Hoffnungslosigkeit erkenne ich nicht, wer da redet: sein Mund, seine Augen, seine Hände oder seine Kleidung? Mein Verstand erscheint mir verhüllt von einem dünnen Vorhang. Ich spüre nur, wie seine Gedanken mich umklammern.
Motl, und wenn doch? Vielleicht noch heute?
Seine Finger deuten dabei durch das vergitterte Barackenfenster auf den Stacheldraht beim Zaun.
Schon hundert Mal habe ich diese Frage und diesen Plan gehört, schon tausend Mal selber darüber gegrübelt. Die Antwort ist mir selbst so klar, dass die Lippen nicht mehr beim Verstand nachfragen müssen, sondern jedes Mal selbstständig antworten:
Unmöglich!
Aber jetzt bin ich schon zu müde. Mein Verstand ist so verdunkelt und ausgezehrt, dass er dieses einzige, mechanische Wort der Resignation nicht mehr über die Lippen bringt. Also schweige ich. Mein Kamerad nimmt es als Zeichen der Zustimmung. Er stachelt mich weiter an mit seiner glühenden Ungeduld:
Heißt das, du bist bereit? Soll ich hinausgehen und einen Blick auf die Zaunpfähle werfen?
Er wartet nicht einmal meine Antwort ab, sondern schlurft hinaus aus der Baracke. Für eine Minute bleibe ich allein unter Schlafenden. Nüchterne Wachsamkeit schüttelt mich. Ich fühle mich wie auf einem Friedhof. Schwach höre ich es in mir fragen: Schlafen sie nur, diese Menschen um mich herum, auf ihren grabähnlichen Betten?
Die gefühlte Gefahr, die sich monatelang in der Luft, zwischen den Betten und in den Winkeln zusammengeballt hatte, fühlte sich plötzlich kräftiger an. Sie senkte sich herab und gab mir mit einem Flügel einen Schlag an den Kopf. Es war, als ob alle Schlafenden ihre Schrecken des Tages im wachen Diesseits zurückgelassen hatten, und all diese Schreckensbrocken sammelten und verknoteten sich zu einem Körper. Dieser ganze schwarze Gedanken-Koloss, der sich nicht durch die weiten Grenzen des Schlafes hindurchreißen konnte, warf sich mir wie einem Erlöser zu Füßen. Alle müden Wände, die meine