Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39. Wolfram Ette
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Weder die an sich vernünftige Weber’sche Marxismuskorrektur noch die eher verblüffende Umformulierung Parsons’ in der Theorie des kommunikativen Handelns können ausreichende Gründe für die Fokussierung des Autors auf die Missstände der Verrechtlichung liefern. In letzter Instanz basiert diese Fokussierung auf einem anderen Fundament, welches aber seitdem zunehmend zerbröckelt.
Ein weiterer Kritikpunkt am Mainstream-Marxismus ist in der Theorie des kommunikativen Handelns das Scheitern, die qualitativen Veränderungen des modernen Kapitalismus erklären zu können, die durch das massive Eingreifen des Staates, durch Massendemokratie und den modernen Sozialstaat zustande gekommen sind. Mit unmittelbarem Bezug auf Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (das Buch ist bezeichnenderweise 1973 erschienen, kurz bevor sich der keynesianische Sozialstaat der Nachkriegszeit einer Reihe von Krisen ausgesetzt sehen sollte) beschreibt Habermas das Verwaltungssystem als Entschärfung traditioneller ökonomischer und klassenbasierter gesellschaftlicher Konflikte durch eine Reihe bürokratisch umgesetzter, sozialer Entschädigungen. Obwohl Klassenungleichheit weiterhin grundlegend für den Kapitalismus bleibe, habe der Verwaltungsapparat der Nachkriegszeit den Klassenkonflikt wirksam pazifiziert, bis hin zu dem Punkt, da »[d]ie ungleiche Verteilung sozialer Entschädigungen […] sich nicht mehr umstandslos auf Klassenlagen zurückführen« (II, 512) ließen. Der Klassenkonflikt verliere damit seine »strukturbildende Kraft für die Lebenswelt sozialer Gruppen«, wogegen neue Arten der klassen-unspezifischen Verdinglichung (d. h. Verrechtlichung) an Bedeutung gewönnen: »Ökonomisch bedingte Krisentendenzen [werden] nicht nur administrativ bearbeitet, gestreckt und aufgefangen, sondern unbeabsichtigt ins administrative Handlungssystem verlagert« (II, 506). Um die wichtigsten Pathologien heutiger Gesellschaften verstehen zu lernen, sei daher der Verwaltungs- und Sozialstaat der angemessene Ort. Aus diesem Grund erhält die Kritik pathologischer Verrechtlichung (z. B. problematische Auswüchse in Aufsichtsrecht und Verwaltungshandlungen) ihre privilegierte Rolle in der Analyse, während konventionelle Facetten der Kapitalismuskritik in den Hintergrund entschwinden. Offenbar ist Habermas überzeugt, dass diese revidierte Analyse der modernen politischen Ökonomie unabdingbar ist für das Bestreben in der Theorie des kommunikativen Handelns, eine modernisierte – und dennoch erkennbar marxistische – Sozialtheorie zu formulieren, die den gesellschaftlichen Bedingungen der heutigen Zeit entspricht.
Schon als Habermas erstmals diese stark stilisierte Beschreibung der politischen Ökonomie des Nachkriegskapitalismus vorschlug, ließ sich diese nur auf einen kleinen Kreis einzelstaatlicher Situationen anwenden und vernachlässigte den Umfang gesellschaftlicher und klassenbasierter Spezifizität.24 Noch offensichtlicher wurde dies Mitte der 1980er, als sich der fordistische Kapitalismus sowie der Sozialstaat der Nachkriegszeit in Großbritannien, den USA und anderswo bereits in Auflösung befanden.25 Bis heute sieht sich der Sozialstaat in den meisten europäischen Staaten ebenso wie in den kapitalistischen Industriestaaten Asiens (z. B. Australien, Japan, und Neuseeland) und Nordamerikas massivem Druck ausgesetzt. Zudem erweist sich Habermas’ Interpretation als wenig hilfreich bei der Aufgabe, neu entstehende kapitalistisch-politische Ökonomien wie das demokratische Indien, das autoritäre China oder auch nur die postkommunistischen Marktwirtschaften Osteuropas zu erklären. Sicher bleibt Verwaltungsmacht eine Hauptquelle gesellschaftlicher Missstände. Dennoch erscheint die kontroverse Behauptung, dass konventionelle Formen wirtschaftlicher und Klassenungleichheit im Kapitalismus in den Verwaltungsapparat ›verschoben‹ seien, deutlich provinzieller als noch in den 1980ern. Zum Beispiel lohnt es sich in Anbetracht dessen, dass die »rechtliche Institutionalisierung des Tarifkonflikts« die unmittelbare Grundlage für die »sozialstaatliche Pazifizierung des Klassenkonflikts« (II, 510) darstellt, daran zu denken, dass selbst in hochkapitalistischen Staaten die Zahl der durch Gewerkschaftsverträge abgedeckten Werktätigen sinkt.26 Kein Wunder, dass wir selbst dort starke Belege für das alarmierende Ausmaß finden, in dem die ökonomischen Ungleichheiten des Kapitalismus unmittelbar das soziale Dasein bestimmen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Prozentsatz der Männer, deren potenzielles Einkommen durch den Verweis auf das ihrer Väter vorhergesagt werden konnte, ging zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den 1980er Jahren erheblich zurück. Im Jahre 2000 hatte sich dieser Anteil verglichen mit den 1950er Jahren verdoppelt und lag nun etwa auf dem Niveau der Ära vor dem New Deal. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Sohn eines Arbeiters ebenfalls nicht über ein Arbeitereinkommen hinauskommt, war in 1980er Jahren doppelt so groß geworden wie in den 1920ern. Die Situation hat sich gegenüber den 1950ern Jahren verschlechtert und gleicht der aus den 1910er und 1920er Jahren. 36 Prozent der amerikanischen Kinder, deren Eltern sich im untersten Fünftel der Vermögensverteilung wiederfinden, werden dort auch bleiben; und jene, die in höhere Einkommensschichten hineingeboren werden, werden ebenfalls mit größerer Wahrscheinlichkeit dort verbleiben als dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Wie auch andere kapitalistische Industriestaaten bleiben die USA mit Sicherheit eine Gesellschaft, in der die Kategorie der sozialen Klasse nicht nur verstörend zentral bleibt, sondern wo Klassenungleichheit in dramatischem Ausmaße zunimmt.27
IV.
Unsere Untersuchung der kritischen Beschreibung der Verrechtlichung in der Theorie des kommunikativen Handelns richtet unsere Aufmerksamkeit auf einen Grund für Habermas’ vollständige Hinwendung zu juristischen Themen in den späten 1980ern und frühen 1990ern, der leicht übersehen werden kann: Einer der entscheidenden Thesen der Theorie des kommunikativen Handelns zufolge nehmen zentrale Sozialpathologien in heutiger Zeit Formen der Gesetzgebung und der Verwaltung an, und Aufgabe kritischer Theorie müsse es daher sein, besonderes Augenmerk auf die Dilemmata heutigen Sozialrechts zu richten. Als Resultat dieser Bemühung erschien Faktizität und Geltung Anfang der 1990er Jahre als ein bedeutender – und tatsächlich äußerst beeindruckender – Beitrag zu Jurisprudenz und praktischer Philosophie. In Anbetracht der Imposanz dieses Werkes mag es pedantisch scheinen, auf bestimmte Spielarten hinzuweisen, in denen sich die von mir beschriebenen Schwächen auch in Faktizität und Geltung wiederfinden. Meinem Verständnis nach ist dieses Werk teilweise als Konsequenz eines wichtigen, aber verborgenen Stranges Habermas’schen Denkens zu verstehen, demzufolge sich traditionelllinke Kapitalismuskritik als Kritik moderner Gesetzgebung rekonfigurieren lasse. Selbst in der beeindruckenden Ausarbeitung in Faktizität und Geltung weist diese Umformulierung jedoch eine Reihe problematischer Schwachpunkte auf.
Doch bevor wir uns diesen Schwachpunkten zuwenden, sei hier auf ein weit verbreitetes exegetisches Missverständnis eingegangen: Habermas’ frühere Kritik der Verrechtlichung verschwindet keineswegs durch seine sogenannte ›juristische Wende‹ in Faktizität und Geltung.28 Auch wenn der Begriff ›Verrechtlichung‹ nur wenige Male in Faktizität und Geltung auftaucht, so geistert ihr Phantom doch durch jedes einzelne Kapitel (FG, 472)29. Wie schon