Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39. Wolfram Ette
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Im Gegensatz zu neoliberalen Kritikern der Verrechtlichung lehnt Habermas das Wachstum des modernen Staats per se offensichtlich nicht ab. Im Gegenteil: Er behauptet an einer Stelle der Theorie des kommunikativen Handelns, dass Recht grundsätzlich neben Macht und Geld als abstraktes Steuerungsmedium dienen könne, und zwar in solchen Bereichen des Wirtschafts-, Handels-, und Sozialrechts, »die sich ja ohnehin gegenüber den normativen Kontexten des verständigungsorientierten Handelns verselbständigt haben.«5 In gesellschaftlichen Bereichen, in denen das Handeln bereits hauptsächlich formal organisiert und daher unmittelbar durch systemische Imperative geformt sei (z. B. im Arbeitsrecht), stelle die staatliche Regulierung üblicherweise kein Problem dar (vgl. II, 538). In anderen gesellschaftlichen Bereichen jedoch, die eng mit der Lebenswelt verbunden sind (z. B. Familie und Bildungssystem), erweise sich Verrechtlichung als schwieriger einzuordnen. Würde die Validität derartiger Normen in Frage gestellt, drängten Themen von moralischpraktischer Bedeutung umgehend in den Vordergrund: »Sie bedürfen einer materiellen Rechtfertigung, weil sie zu den legitimen Ordnungen der Lebenswelt selbst gehören« (II, 536). Im Gegensatz zu Gebieten, in denen das Recht ohne größere Probleme als Steuerungsmedium dienen könne, nähme es anderswo die Form dessen ein, was Habermas als Rechtsinstitutionen beschreibt: Diese »stehen in einem Kontinuum mit sittlichen Normen und überformen kommunikativ strukturierte Handlungsbereiche« (II, 537). Diese Gefahr sei besonders dort ausgeprägt, wo vergleichsweise wenig formale Organisation existiere. Selbst dort könne staatliche Intervention prinzipiell soziale Integration ergänzen, anstatt wesentliche Aufgaben der Lebenswelt imperialistisch durch die Fremdmedien Geld und Macht zu überformen (vgl. II, 541). Die empirische Beweislage allerdings weise darauf hin, dass eher Letzteres der Fall sei. Finanzielle Entschädigung und juristische Intervention in Schul- und Familienrecht überforderten nicht nur die staatliche Bürokratie; sie schleusten auch die Logiken der Wirtschaft und Verwaltung in Bereiche ein, die davon möglichst befreit bleiben sollten. Mit Blick vor allem auf Beispiele aus der zeitgenössischen BRD argumentiert Habermas, dass die wachsende Regulierung von Schulen komplexe Sozialisationsmechanismen künstlich in ein »Mosaik von anfechtbaren Verwaltungsakten« zerlegten (II, 545). Die Gefährdung elementaren pädagogischen Handelns sei ein Ergebnis dieser Entwicklung. Bemühungen, Rechte von Kindern auf juristischem Wege zu schützen, verletzten in ähnlicher Weise »die kommunikativen Strukturen des verrechtlichten Handlungsbereichs« (II, 543).
Habermas geht so weit zu behaupten, dass Verrechtlichung auch empirische Argumente für den ambitionierten Versuch der Theorie des kommunikativen Handelns bereitstelle, marxistische Ideen der Verdinglichung neu zu formulieren.6 Wo Marx und Lukács erklärt hatten, dass gesellschaftliche Institutionen häufig deshalb als quasi-natürliche Realitäten erlebt wurden, weil Arbeitskraft im Kapitalismus als Warenform subsumiert werde, revidiert Habermas diese Sichtweise durch Bezüge auf Systemtheorie und Weber. Sowohl Geld als auch Macht seien verantwortlich für einen »Abstraktionsvorgang« (II, 476), analog der marxistischen Theorie der Reduktion konkreter Arbeit auf abstrakte Arbeit und Warenform, welche die Lebenswelt entstelle. In Familien- und Schulrecht würden die Handelnden einander in beschränkter, »objektivierender, erfolgsorientierter Einstellung« (II, 542) gegenübertreten. Das hypertrophische Wachstum abstrakter, mediengesteuerter Subsysteme bedeute, dass Familie und Schule als verdinglichte, quasi-natürliche Gebilde erlebt würden, die durch undurchdringliche, objektive Imperative geregelt sind. Die »objektivistische Verformung von Subjektivität überhaupt« (II, 489), die Lukács befürchtet hatte, offenbare sich nun direkt, in Form von Aufsichtsrecht, dessen systembasierte Verformungen kommunikativen Handelns rücksichtsloses Ausufern erlaubten. Wie Weber bereits zu Recht gegenüber dem orthodoxem Marxismus und seiner einseitigen Zurechnung der Verdinglichung zum modernen Kapitalismus angemerkt hatte, könne sich »Verdinglichung […] ebenso gut in öffentlichen wie in privaten Lebensbereichen manifestieren« (II, 503).
In Anbetracht des Versuchs, eine Kritik der Verrechtlichung als Modernisierung konventioneller Kapitalismuskritik zu etablieren, erstaunt es nicht, dass sich die relativ bescheidenen Reformvorschläge in der Theorie des kommunikativen Handelns auf Rechtsfragen konzentrieren. Habermas beschreibt mit unübersehbarem Wohlwollen seine Ideen für mögliche Rechtsreformen, deren Aufgabe sich auf die »rechtliche Institutionalisierung der äußeren Verfassung, sei es der Familie oder der Schule« (II, 544), beschränken würde. Im Gegensatz zum unnachgiebigen Formalrecht, untrennbar mit der aufdringlichen Intervention der Steuerungsmedien Macht und Geld verknüpft, ließe sich so ein Alternativmodell für lokalisierte Selbstregulierung testen. Dies könne eine dezentralisierte Entscheidungsfindung ermöglichen: »Verfahren der Konfliktregelung […], die den Strukturen verständigungsorientierten Handelns angemessen sind – diskursive Willensbildungsprozesse und konsensorientierte Verhandlungs- und Entscheidungsverfahren« (II, 544). Die rechtliche Regulierung von Schulen könne sich beispielsweise als notwendig herausstellen, sollte sich aber auf die Kodifizierung von Abläufen beschränken, mit deren Hilfe z. B. Eltern, Lehrer und Schulfunktionäre ihre Angelegenheiten selbst und auf kontextuell angemessene Weise regeln können.
II.
Leser des 1992 erschienenen Buches Faktizität und Geltung wissen bereits, dass Habermas bald schon Teile der ursprünglichen Ideen der Theorie des kommunikativen Handelns zum Problem der Verrechtlichung aufgeben – und andere modifizieren – sollte. Er lag damit richtig: Seine früheren Erörterungen hatten an manchen Stellen unter einem gewissen Provinzialismus gelitten. Denn wie hilfreich waren seine ein wenig idiosynkratischen Beispiele aus der jüngeren deutschen Gesetzgebung für das Verständnis allgemeinerer juristischer Entwicklungen? Aus Sicht progressiver Kräfte in den USA, die im Kampf gegen Rassismus aggressive staatliche Intervention an Provinzschulen verteidigten, muss seine Betonung der Gefahren der Verrechtlichung merkwürdig deplatziert gewirkt haben. Es ist daher vielleicht nicht überraschend, dass seine Darstellung schnell zur Zielscheibe heftiger Kritik wurde. Selbst wohlwollende Feministen und Feministinnen ließen kein gutes Haar an Habermas’ Diagnose und den dort implizierten, patriarchalen Annahmen bezüglich der Geschlechter- und Familienverhältnisse.7
Ingeborg Maus, die Politologin und Rechtstheoretikerin der Frankfurter Schule, zeigte bereits 1986 in einer bedeutenden Abhandlung die offensichtlichsten juristischen Schwächen in Habermas’ ursprünglicher Theorie auf.8 Rechtsentwicklungen gerade auf den Gebieten, die Habermas als besonders problematisch eingeschätzt hatte, zeigten sich im Gegenteil als am wenigsten vom abstrakten Formalrecht geprägt. Demnach seien Familien- und Schulrecht »am stärksten von ›freirechtlichen‹ Normen beherrscht [und] durch staatliche Rechtsetzung relativ unbeeindruckt«.9 Laut Habermas’ Schilderung war das Eindringen von abstraktem allgemeinem Recht verantwortlich für die Pathologien des Rechts, die der Kolonialisierung der Lebenswelt folgten: Die abstrakten Medien Macht und Geld schlössen sich mit Formalrecht zusammen, resultierend in besorgniserregenden ›gewalttätigen Abstraktionen‹. Diese Diagnose verschleiert jedoch die Tatsache, dass modernes Aufsichts- und Sozialrecht hochgradig ›materialisiert‹ sind: Sie stützen sich auf Einzelmaßnahmen, unklare Normen, pauschale und scheinbar moralistische Klauseln (z. B. ›auf Treu und Glauben‹) sowie auf Ermessens- und teilweise irreguläre Handlungen auf Seiten von Verwaltung und Justiz.10 Wie Weber nahezu ein Jahrhundert zuvor festgestellt hatte, werden die klassischen Typen des Formalrechts zunehmend seltener, besonders dort, wo Fragen der sozialen Wohlfahrt überragende Bedeutung gewinnen.11 Es ist ›materialisiertes‹ Sozialrecht und nicht in erster Linie ›abstraktes‹ allgemeines Recht, das die Grenzen zwischen Richtern und Bürokraten (mit Ermessensspielraum) verwischt, während traditionelle Formen der normbasierten juristischen Entscheidungsfindung zunehmend unüblich werden. Trotz des entscheidenden Bruchs mit Weber in dem Beharren, dass staatliche Bürokratien nicht ohne Grundierung (via Gesetz) in der Lebenswelt auskommen könnten, akzeptiert Habermas dennoch einen zu großen Teil von Webers Darstellung staatlicher Bürokratien als regelorientierte, hierarchisch strukturierte Institutionen. Dadurch verschleiert er die ungleich chaotischere Realität