Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39. Wolfram Ette
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Berufsethische Instanzen wie der Ethikkodex des Deutschen Presserats setzen meist individualethisch an und fokussieren die korrekte Gesinnung der Einzelnen in Relation zu ihrer Ausbildung, Berufserfahrung usw. Der Ethikkodex des Deutschen Presserats sieht in der »Pflicht, im Rahmen der Verfassung und der verfassungskonformen Gesetze das Ansehen der Presse zu wahren«, die vornehmste Aufgabe einer »Berufsethik der Presse«27. Aber das geschieht in einem strikt individualethischen Rahmen. Das Ergebnis sind aus der Sicht von Rüdiger Funiok unzureichende ›individualethische Verantwortungsappelle‹. Sie müssten durch eine sozialethische Perspektive erweitert werden. Denn soviel ist Funiok klar: »Bedingungen und Entscheidungsspielraum der Einzelakteure« sind »entscheidend vom strukturellen und organisatorischen Kontext bestimmt«28.
Aber auch die Verantwortung des Publikums der traditionellen Massenmedien ist aus Sicht einiger Medienethiker ebenso wenig als Individual-Verantwortung zu verstehen wie die Verantwortung der Nutzer der neuen online-Medien. Mediennutzung erfolgt ja stets »in einem sozialen Kontext«29: Familie, die Gruppe der Gleichaltrigen, Schule, Hochschule usw. Alle, die mit der Herstellung, Verbreitung und Nutzung von Medien zu tun haben, tragen daher Verantwortung: Journalisten, Rundfunk- und Fernsehleute, Mitarbeiter der Werbe- und PR-Branche, Kommunikationsgestalter – auch im Webdesign –, Berufsverbände, Unternehmen, Konzerne – also die »Besitzer und Betreiber von Massenmedien«30 –, ebenso wie das Publikum und alle einzelnen Nutzer. (Bohlkens oben referierte Ansicht, nur den Produzenten könne Verantwortlichkeit zugeschrieben werden, wird von den meisten Medienethikern nicht geteilt.) Und auch die sozialen Instanzen, die für die Rahmung und Kritik der Medien zuständig sind, nämlich (in erster Linie) Gesetzgeber und eben die vielbeschworene Öffentlichkeit, sind Funiok zufolge Verantwortungsträger; zumal dann, wenn sie als »Leserräte«, als »Media-Watch-Initiativen«31 oder als Ethik-Kommissionen institutionalisiert sind. Ob es um gesetzliche Kontrolle geht, um freiwillige Selbstkontrolle der Medienmacher oder um ein medienkritisches öffentliches Bewusstsein der Mediennutzer: Immer müsse das Ziel eine weitgehende »korporative Selbstverpflichtung«32 sein. Diese soll, wie gesagt, in sozialethisch haltbare Verantwortung münden, weil im Zentrum der medienethischen Begründung ja nicht mehr der Begriff der Pflicht steht. Nur ein solchermaßen gerechtfertigtes Handeln könne das nachhaltige Vertrauen schaffen, welches für soziales Handeln unabdingbar ist. »Damit Institutionen sich das Vertrauen ihrer Mitglieder und der Öffentlichkeit erhalten, müssen sie ihre korporative Verantwortung wirklich ernst nehmen«, schreibt Funiok, »z. B. dadurch, dass im Leitbild und in Strategiekonzepten Wertprioritäten formuliert werden, dass neben unternehmensstrategischen auch gemeinwohlorientierte Zielsetzungen Gültigkeit besitzen und klare Verantwortungsbegrenzungen getroffen werden.«33
Der ›strukturelle und organisatorische Kontext‹ medialen Handelns basiert freilich auf ökonomischen Bedingungen; über deren Vorhandensein ist sich Funiok zwar völlig im Klaren, aber er stellt sie ebenso wenig in Frage wie andere Medienethiker. Diese Grenze kann eine normativistische Handlungsreflexion offenbar nicht überschreiten – auch nicht als sozialethische.
Ökonomische Bedingungen, die subjektübergreifende Zwänge schaffen, sind sowohl durch konfligierende Interessen der Akteure als auch durch systemische Imperative gekennzeichnet. Der Markt als Ort konkurrierender Angebote zwingt zur Konzentration und Ballung von Macht, zur Oligopol- und Monopolbildung.
Funioks Fachkollege Christian Schicha konstatiert an diesem Punkt, dass »die Imperative der Ökonomie im Medienwettbewerb eine zentrale Rolle« spielen und »ggf. konträr zu den medienethischen Idealnormen stehen«34 können. Idealnormen könnten aber »keine praktische Hilfe bei konkreten Handlungsentscheidungen liefern«, weil sie »zu allgemein, zu unbestimmt und zu rigide«35 sind. Deshalb müsse man näher an die »Lebenspraxis«36 herankommen und einen »Kompromiss« finden »zwischen den idealen Ansprüchen und der legitimen Anpassung an die faktischen Gegebenheiten«37. Dazu weicht Schicha auf die »anthropologischen und psychologischen Realitäten«38 aus, die man berücksichtigen müsse, um nicht zu rigide und jenseits des Zumutbaren zu argumentieren. Niemand solle überfordert werden, aber andererseits dürfe man sich auch nicht »zu stark an opportunistischen Gepflogenheiten in der Praxis […] orientieren«39. So geht Schicha den Imperativen der Ökonomie, die er gerade eben noch benannt hatte, sogleich wieder aus dem Wege.40
Funiok wiederum argumentiert traditionell philosophisch – er verlässt sich auf den inneren Zusammenhang von Macht, Verantwortlichkeit und Freiheit. Er meint: Auch wenn die »freie Konkurrenz des Marktes« durch »die hochgradigen Konzentrationsprozesse« weitgehend stillgestellt ist, hätten »Medienunternehmer […] Handlungsfreiheit und […] politische Macht, wirtschaftliche, kulturelle und technologische Macht über die physische Umwelt wie über Individuen.«41 Und weil man sich für Macht ja immer verantworten muss, gilt nach Funiok die Formel: »Je mehr Macht, desto größer sind die Freiheitsgrade.«42 Daher muss man sich für seine Macht nicht nur verantworten, sondern man kann es auch, weil man ja frei ist.
Diese Lösung erinnert an einen ontologischen Gottesbeweis. So versuchten Philosophen einst, das theologische Ordnungsprinzip gegen aufkommende Kritik zu immunisieren. Sie argumentierten: Wir besitzen den Begriff des allervollkommensten Wesens. Da Vollkommenheit logischerweise auch Existenz einschließt – ein nur gedachtes Wesen wäre ja im Vergleich zu einem real existierenden unvollkommen –, folgt aus dem Begriff von etwas Vollkommenen auch sein wirkliches Sein. Es wäre also widersinnig anzunehmen, dass dieses Wesen nicht auch außerhalb unserer Köpfe existiert.
Funiok scheint entsprechend zu argumentieren: Aus dem Konzept einer Verantwortung aus Freiheit folgt, dass sie in der Realität wirkmächtig ist. Gemeint ist natürlich: Wirkmächtig ist die Idee der Verantwortung als handlungsleitendes Motiv, das durchaus kontrafaktisch sein kann. Dagegen ist nichts einzuwenden – die Frage ist nur: Wie weit kommt man, wenn man sich auf das normative Leitbild der demokratischen Öffentlichkeit verlässt?
Die systemische Rationalität der Medien-Marktwirtschaft (die freilich hinter einen unverkürzten Begriff der Vernunft zurückfällt, weil sie instrumentell auf den Zweck der Vermehrung warenförmigen Reichtums fixiert ist und im Hinblick auf die Zwecke wirtschaftlichen Handelns bewertungsabstinent bleibt) lässt Luhmann mit seinem Verdikt über normative Ethik, wenn man so will, als Punktsieger im Wettstreit mit dem medienethischen Normativismus erscheinen. Wenn man aber bedenkt, dass die Konzentrationstendenz von Märkten kein Naturgesetz ist, sondern ein gesellschaftliches Bewegungsgesetz, dann rückt die Sache in ein anderes Licht: Was schlichte, normfreie Faktizität zu sein scheint, ein soziales Subsystem, welche die Wissenschaft mit ethischen Begriffen allenfalls beschreiben kann, erweist sich als implizit normatives Konstrukt. Dessen ideologischen Charakter erkennt nur ein reflexionsamputiertes Denken nicht.
Doch was genau heißt »Ideologie«? In der kritischen Sozialphilosophie der Gegenwart werden Ideologien als Theorien verstanden, die normative Aussagen als deskriptive präsentieren und sich selbst als solche missverstehen. Ideologien treten auf, als würden sie nur beschreiben, aber faktisch konstituieren sie soziale und kulturelle Praktiken. Denn Ideologien legen Auffassungen davon nahe, was die Welt ist und wie in ihr gehandelt werden kann.43 Kritische Theorie erklärt diesen falschen Schein aus seiner Verbindung mit dem falschen gesellschaftlichen Sein.44
Statthalterin der Freiheit ist im medienethischen Konstrukt der demokratische Staat – und zwar nicht nur sein Spielbein, die plurale Meinungsbildung, sondern auch sein Standbein, die Zwangsgewalt. Wenn »die kommunikative Legitimierung von politischer Autorität« als wichtigste Aufgabe der Medien angesehen wird und deren sozialmoralische Normierung als wichtigste Aufgabe der Medienethik,