Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39. Wolfram Ette
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So weit, so gut – aber muss es nicht auch Begründungen geben, die über den formalen Verweis auf die Unerlässlichkeit wechselseitiger Anerkennung hinausgehen und der Begründung einer Medienethik als Verantwortungsethik inhaltliches Gewicht geben? Im Folgenden werde ich mich, um den entsprechenden Begründungsansatz nachzuzeichnen, hauptsächlich auf den Medienethiker Rüdiger Funiok beziehen. Funiok geht es weniger um ein eigenes medienethisches Argumentationsmodell, als um einen konsensfähigen Extrakt aus der Debatte der letzten zwei Jahrzehnte;8 seine Schriften genießen Anerkennung unter Fachleuten, und seine Arbeit wird auch in der Medienöffentlichkeit wahrgenommen.
Maßstab ist für Funiok und andere »das Gelingen medienvermittelter demokratischer Kommunikation«9, durch die Öffentlichkeit entsteht: eine Sphäre für die Selbstvergewisserung mündiger Menschen über ihre Lebensformen und -inhalte. »In den modernen Massendemokratien«, resümiert Funiok die Sozialgeschichte der Medien,
»ist der Willensbildungsprozess auf die Vermittlung von (repräsentativen) Meinungskundgaben in Zeitungen, später auch im Radio und Fernsehen angewiesen. Die Herstellung von Öffentlichkeit für Themen von allgemeinem Interesse und die kommunikative Legitimierung von politischer Autorität stellen seither eine grundlegende Funktion der Medien dar.«10
Medien haben demnach den »gesellschaftliche[n] Auftrag […] demokratische Meinungsbildung zu ermöglichen und zu fördern«11, damit die gegenwärtige »Mediengesellschaft« eine »demokratische Wissensgesellschaft bleiben oder werden«12 könne. Adressaten der Medienethik sind Personen und Institutionen, die Medien produzieren und verbreiten. Postuliert wird ein Bewusstsein der Verpflichtung zum verantwortlichen Handeln, das Funiok (mit Bernhard Debatin) eine »innere Steuerungsressource«13 nennt. Wenn diese, oder, in traditioneller Terminologie: wenn das Pflichtbewusstsein fehlt, ist das Rechtssystem mit seinen Verboten zuständig. Aber nicht allein das Konzept der Pflicht schaffe Handlungslegitimation, sondern vor allem das der Verantwortung.14 Grundlage der Bewertung ist in der Medienethik also nicht mehr die individualethische Frage, ob »aus Pflicht« gehandelt worden sei, sondern die sozialethische, ob sich jemand für sein Handeln im Hinblick auf legitime Ansprüche anderer verantworten könne. Jeder Medienakteur solle »über die Güte seines Handelns verantwortlich entscheiden«15, heißt es im Handbuch Medienethik aus dem Jahre 2010.
Das Konzept »Verantwortung« stammt bekanntlich aus dem Rechtssystem und hängt mit dem Haftbarmachen eines Täters zusammen. In der Ethik, die es seit geraumer Zeit adoptiert hat, versteht man unter Verantwortung eine »sozialethische Verpflichtung«16, die mit Max Weber17 wie folgt definiert wird: Jeder Akteur muss für die voraussehbaren Folgen des eigenen Handelns aufkommen können. Verantwortung ist im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte allmählich zu einem »Schlüsselbegriff des modernen Lebens geworden«, wie Hans-Ernst Schiller resümiert: »Verantwortung heißt […] Antwort zu geben auf die Anklage, dass man etwas getan hat, was religiösen und moralischen Geboten oder staatlichen Gesetzen widerspricht.«18
Die Medienethik arbeitet dabei nicht mit dem dramatisierten Verantwortungsbegriff von Hans Jonas, der seine Ethik mit dem Verweis auf die »exzessive[…] Größe unserer Macht« begründet hatte. Zwiespältige Errungenschaften wie Atomkraft oder Gentechnologie hätten irreversible Folgen, und daher forderte Jonas »eine neue Art von Demut«19: Wir sollten von Neuem »Ehrfurcht und Schaudern«20 lernen, um uns »vor den Irrwegen unserer Macht [zu] schützen« und »das Gedeihen des Menschen in unverkümmerter Menschlichkeit«21 zu fördern. Für Jonas hieß das: Im nachreligiösen Zeitalter von Wissenschaft und Technik sollte »die Kategorie des Heiligen«22 wieder hergestellt werden: Wir sollten handeln, als ob die Natur ein Heiligtum wäre, vor dem wir uns zu verantworten haben. – Eine höchst zwiespältige Strategie: Das Heilige ist kulturgeschichtlich stets mit Gewalt verbunden und, wenn es authentisch empfunden und nicht bloß künstlich heraufbeschworen wird, mit Angstgefühlen besetzt. »Ehrfurcht und Schaudern« löst das Heilige nur aus, wenn es nicht begriffen wird. Dies ist keine gute Basis für freies, vernunftbestimmtes Handeln – das Heilige als moralische Kategorie passt eher in eine autoritäre Ethik, die das Handeln heteronomen Vorschriften unterwirft, anstatt Wege zu zeigen, wie man zu autonomen Entscheidungen kommt und lernt, »die Verantwortung für sich selbst«23 zu übernehmen.
Zurück zur Medienethik. – Funiok empfiehlt mit Blick auf den neueren philosophischen Verantwortungsdiskurs, die Frage entsprechend zu differenzieren: Wer trägt Verantwortung? Was muss verantwortet werden? Was sind die Folgen, wofür trägt der Handelnde Verantwortung? Wer sind die Betroffenen, wem gegenüber trägt er Verantwortung? Wovor muss er sich verantworten, oder: Welche Instanzen sind zuständig? Das Gewissen, die Öffentlichkeit? Weswegen muss sich der Handelnde verantworten, was sind jeweils die Kriterien, Normen und Werte?24
Bei aller Diversität der einzelnen Positionen steht für die Vertreter der Medienethik eines außer Frage: Der oberste Wert, aus dem heraus der Verantwortungsbegriff seinen spezifischen Sinn erhält, ist die demokratische Öffentlichkeit. Sie ist der Wert schlechthin, die letzte Instanz normativer Orientierung und Kritik. Das halte ich für problematisch. Doch bevor ich ausführe, inwiefern, soll das Konzept der Verantwortung noch etwas genauer betrachtet werden.
In den Massenmedien, sagen die meisten Medienethiker, ist es nicht immer leicht, einzelne Akteure mit Verantwortung zu benennen. Herstellung, Verteilung und Nutzung sind arbeitsteilig und unübersichtlich. Wenn man zunächst bei der Herstellung und Distribution bleibt, stelle sich die Frage, wem ein Medien-Angebot letztlich zuzurechnen ist. Den Journalisten, die Nachrichten und Berichte verfassen? Den Drehbuchautoren und Regisseuren im Bereich der Unterhaltung? Oder den Mitarbeitern einer Werbe- oder PR-Agentur? Und gibt es nicht auch die »strukturellen Akteure« im Mediensystem, also Sender, Verlage, Firmen und Konzerne? Um all dies zu berücksichtigen, unterscheiden Medienethiker analytisch zwischen individueller und korporativer Verantwortung; und sie legen Wert darauf, auch das Problem der »geteilten Verantwortung« zu beachten.25
Das kann man sich anhand von drei Beispielen klarmachen. Ein Fernsehsender verlangt von Mitarbeitern reißerische Berichterstattung, um die Zuschauerquote zu heben, und dies hat zur Folge, dass ein Journalist unseriös mit den Informationsquellen umgeht und die Zuschauer manipuliert. Dies ist insofern ethisch problematisch, als er damit gegen die Verpflichtung verstößt, bei der demokratischen Urteilsbildung zu helfen. Oder nehmen wir an, der Fernsehsender will sensationelle, moralisch bedenkliche Unterhaltung bringen; sein ökonomisches Ziel ist die Erhaltung von Marktmacht, Unternehmensgewinn und Arbeitsplätzen, und das Mittel dazu ist Aufmerksamkeit. Wenn daraufhin ein Bild von der Welt produziert wird, das gegen das verbreitete moralische Empfinden verstößt, weil es menschenverachtend und frauenfeindlich ist, Gewalt verherrlicht und die Weltsicht der Zuschauer, besonders der jugendlichen, negativ beeinflusst, ist das ebenfalls ethisch problematisch. Es hindert Menschen daran, andere in ihrer Andersheit zu respektieren und friedliche Konfliktlösungen anzustreben. Drittes Beispiel: das Foto des verletzten und gedemütigten Jan Philipp Reemtsma, das seine Entführer im Kellerverlies aufgenommen hatten. Es wurde gegen seinen ausdrücklichen Willen in einer Boulevardzeitung veröffentlicht. Das Interesse des Publikums an schauerlichen Details stand gegen den Wunsch des Opfers eines Verbrechens, seine Privatsphäre