Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39. Wolfram Ette
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Im 18. Jahrhundert etablierten mündige Bürger eine Medienstruktur für aristokratisch und klerikal unkontrollierte Diskurse über Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Bücher, Zeitungspresse und Theater wurden privatwirtschaftliche Medien einer »räsonierenden« Öffentlichkeit im Sinne von Kant. Ihr Schlachtschiff war die Enzyklopädie, die mit modernen Marketingmethoden (nämlich mit Subskription und Haustürverkauf) in ganz Europa verbreitet wurde. Kaum war sie auf dem Markt, sprach der königliche Rat auch schon ein Publikationsverbot aus: Diderot hatte in seinem Artikel über »politische Autorität« dargelegt, dass politische Herrschaft ohne Zustimmung der Untertanen in einem rationalen Unterwerfungsvertrag nicht legitimierbar sei. Im Zuge der Französischen Revolution wurden politische Streitschriften und Pamphlete bestseller. Die Schrift Was ist der Dritte Stand des Abbé Sieyès wurde 300.000-mal verkauft; dort ging es um Toleranz, Steuergerechtigkeit, Menschenrechte und gerechte Behandlung der Landarbeiter. Inspiriert von der Unabhängigkeitserklärung der USA rief die Nationalversammlung in Paris die Menschenrechte aus: das Recht mündiger, männlicher Bürger auf Eigentum und freie Ausübung der Religion sowie die Presse- und Meinungsfreiheit. Als zensurfreie Zone war Öffentlichkeit der zivilgesellschaftliche Überbau der Gewerbefreiheit. Zwei Jahre nach der großen Revolution wurde in Frankreich die Theaterzensur abgeschafft. »Jeder Bürger«, hieß es nun, »darf ein öffentliches Theater errichten und dort Stücke aller Art spielen lassen«49. Gab es Anfang 1791 in Paris neun Theater, so waren es Ende des Jahres bereits 70.
Die moderne, mediengestützte Öffentlichkeit hatte von Anfang an zwei Aspekte: Sie galt der Verbreitung revolutionärer wissenschaftlicher und politischer Ideen, und sie war zugleich ein wirtschaftliches Projekt zur Vermehrung der Profite derer, die ihr Kapital auf dem neuen Markt investierten, der ebenso vielversprechend wie riskant war. Ohne kapitalistischen Unternehmergeist hätten sich die aufklärerischen, demokratischen Ideen nicht entfalten können; aber sie konnten sich nur in einer medialen Sphäre verbreiten, in der es primär gar nicht um Inhalte ging, sondern um die mediale Warenform.
In Europa und in den USA florierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Massenproduktion. Der Handel musste mit Anzeigen, Werbung und Design angekurbelt werden; technologischer Fortschritt ebnete den Weg zu deren Medium, der Massenpresse. Ein neues technisches Medium, die elektrische Telegrafie, war die Basis der drei großen kommerziellen Nachrichtenagenturen Hava, Reuters und Wolff’s, die in Paris, London und Berlin gegründet wurden und sich 1870 zu einem Weltkartell zusammenschlossen.50 Rotationspresse und Zeilendruckmaschine steigerten den Erfolg der kommerziellen Massenpresse weiter. Wichtige bürgerliche Ziele waren nun erreicht; der Handel dehnte sich nahezu schrankenlos aus. Der Diskurs über Menschenrechte wurde vom Diskurs über zeitgemäße Außenpolitik als Motor des Exports und Imports verdrängt.
Habermas hat den Übergang zur Massenpresse als Refeudalisierung des öffentlichen Raumes interpretiert. Ihm zufolge sind der »Waren- und der Nachrichtenverkehr« die wesentlichen »Elemente des frühkapitalistischen Verkehrszusammenhangs«51 gewesen, in dem es noch keine öffentliche Sphäre im bürgerlichen Sinne gab; in der postmerkantilistischen Phase des Kapitalismus habe diese Sphäre dann zunächst Autonomie erlangt und später wieder eingebüßt. Im Spätkapitalismus sei das Publikum kein »kulturräsonierendes« mehr, sondern nur noch ein »kulturkonsumierendes«52.
»Wenn die Gesetze des Marktes, die die Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit beherrschen, auch in die den Privatleuten als Publikum vorbehaltene Sphäre eindringen, wandelt sich Räsonnement tendenziell in Konsum, und der Zusammenhang öffentlicher Kommunikation zerfällt in die wie immer gleichförmig geprägten Akte vereinzelter Kommunikation.«53
Doch diese Beschreibung trifft es nicht ganz. Falsch ist daran die Vorstellung, dass die Gesetze des Marktes in die Sphäre des Publikums »eindringen« würden. Sie gehörten vielmehr von Anfang an dazu: als gleichursprüngliche Gegenkraft zur autonomen Kommunikation über Inhalte und Sachfragen. Raisonnement und Konsum sind nicht Stufen des Verfalls, sondern eine widersprüchliche Einheit von Identität und Differenz im Begriff bürgerlicher Öffentlichkeit.54
Deren innerer Widerspruch bestand darin, dass sich – mit den Worten von Arnold Künzli – »ein partikulares Interesse – das des aufstrebenden Bürgertums – mit dem Nimbus der Universalität umgab.«55 »Das Entréebillet zu dieser ursprünglichen liberalen ›Oeffentlichkeit‹ war das private Eigentum, und damit wurde Oeffentlichkeit zu einem Klassenbegriff des Bürgertums«, heißt es bei Künzli. »Was öffentliche Meinung genannt wurde, war die interessierte Meinung dieses Bürgertums, die sich als universelle gerierte und als Gemeinwohl deklarierte.«56
Auch im 20. Jahrhundert, unter den Produktionsbedingungen des Fordismus, war die massenmediale Öffentlichkeit noch privilegierter Ort der Urteilsbildung freier und gebildeter Bürger. Skandale und Sensationen in Zeitung, Radio und Fernsehen waren alltagskulturelle Aufputschmittel für die arbeitsfreie Zeit, einlullende Unterhaltung fungierte als Beruhigungsmittel. Andererseits hörte die Beschäftigung mit politischen, sozialen und kulturellen Fragen aber nicht einfach auf, denn nun fing auch die Klasse der Nichteigentümer der Produktionsmittel an, öffentlich zu »räsonieren«. Ihre Angehörigen hatten ein Interesse daran, über ihre Lebenslage in der Industriegesellschaft zu kommunizieren und über die Aussichten, sie zu verbessern. Wenn sie in kommerziellen Zeitungen Berichte über Skandale und Verbrechen verfolgten und anschließend darüber diskutierten, war das zumindest ein Teil davon.57 Dies wäre ohne das in sich widersprüchliche, bürgerliche Konzept der Öffentlichkeit nicht möglich gewesen. Denn, wie Künzli zusammenfasst: »Indem das Bürgertum in seinem Emanzipationskampf gegen Feudalismus und monarchistische Staatsautorität für sich Oeffentlichkeit konstituierte und im freien Diskurs eine öffentliche Meinung herausbildete, leistete es, auch wenn es noch nicht Oeffentlichkeit an sich war, einen revolutionären Beitrag zur Emanzipation überhaupt.«58 Und es gab auf der anderen Seite bekanntlich auch das staatliche Rundfunkwesen Großbritanniens und das öffentlich-rechtliche System in der Bundesrepublik, die man als Bastionen der Medien-Domestizierung durch, teilweise steuerfinanzierte, Aufklärung und Bildung der Bevölkerung bezeichnen kann. Diese domestizierten freilich nicht allein den marktwirtschaftlichen Willen zur Macht, der, wenn man so will, die Massenmedien antreibt, sondern auch die Erlebnis- und Erfahrungswelt der Menschen, die ihnen ausgesetzt sind. Oskar Negt und Alexander Kluge haben das in den 1970er Jahren als postkolonialistische innere Kolonisierung der Menschen in den industriellen Zentren der Welt beschrieben. »Die Widersprüchlichkeit des vom Kapitalismus struktrurierten öffentlichen Erfahrungshorizonts schlägt sich auch in den Individuen nieder, die von ihm unterdrückt werden«59: als »Kolonisierung des Bewußtseins«60.
Wenn das Ideal einer Sphäre aufgeklärter Bürger, die im räsonierenden Diskurs politische und soziale Meinungsbildung betreiben, aus der heutigen Medienlandschaft61 verschwindet, handelt sich es aber nicht um Fehlverhalten oder Anzeichen von moralischem Verfall. Medienakteure auf einem globalen Markt sehen sich kaum noch in der Pflicht, mündige Bürger zu erziehen. Sie müssen sich in einem Betrieb erhalten, der – über die mediale Warenform – dabei hilft, aus Geld mehr Geld zu machen. Im Blick auf diesen »Realgrund« haben sie sich zu verantworten – alles