Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39. Wolfram Ette
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Im Folgenden kehre ich zu den theoretischen Grundlagen zurück, die Habermas zur partiellen Neuformulierung der Kapitalismuskritik als Kritik der Verrechtlichung dienen. Dies geschieht aus zwei Gründen. Erstens bin ich trotz wichtiger Bemühungen auf diesem Gebiet nicht der Meinung, dass die bisherigen, kritischen Darstellungen die immanenten Schwächen hinter diesem Wandel ausreichend aufgezeigt haben.3 Habermas behauptet in der Theorie kommunikativen Handelns, dass die Kritik der Verrechtlichung direkt auf zentralen Komponenten seines breiteren Theoriesystems aufbaut (Teil I). Folgerichtig könnten uns die diagnostischen Schwachstellen jener Kritik unter Umständen ermöglichen, tiefergehende Ambiguitäten seines Denkens zu identifizieren (Teile II, III). Zweitens sind diese Schwächen auch für eine Evaluierung seines späteren Werkes Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats und dessen Beitrags zur kritischen Sozialtheorie entscheidend. In meinen Augen bietet dieses Buch eine in vielerlei Hinsicht überlegene Beschreibung der Pathologien heutiger Verrechtlichung. Dennoch finden sich auch hier die Schwächen der früheren Erörterung wieder. Insbesondere die Überzeugung, dass sich traditionell linke Kapitalismuskritik am besten als Rechtskritik artikulieren lasse (Teile IV, V).
I.
Habermas’ Hinwendung zu juristischen Themen in der Theorie des kommunikativen Handelns ist durchaus nachvollziehbar. Verrechtlichung stelle den »Modellfall für eine Kolonialisierung der Lebenswelt« (II, 476) dar. Die finde statt, wenn systemische Imperative von Wirtschaft und Verwaltung die kommunikativ und symbolisch strukturierte Lebenswelt unterdrücken. Letztere steht für jenen »Horizont, in dem sich die kommunikativ Handelnden ›immer schon‹ bewegen«, an dem wir »einen kulturell überlieferten und sprachlich organisierten Vorrat an Deutungsmustern« erkennen können, durch den die grundlegenden Verfahren symbolischer Reproduktion (d. h. kulturelle Reproduktion, soziale Integration und Sozialisierung) erfolgreich sichergestellt werden (vgl. II, 182, 189). Im Gegensatz dazu »verdichten und versachlichen sich« die Systeme der Wirtschaft und Staatsverwaltung, geordnet durch die abstrakten Steuerungsmedien Geld und Macht, unter heutigen Bedingungen »zu normfreien Strukturen«, in welchen sich »die Angehörigen wie zu einem Stück naturwüchsiger Realität [verhalten] – in den Subsystemen zweckrationalen Handelns gerinnt die Gesellschaft zur zweiten Natur« (II, 231). Durch Kolonialisierung zerfalle und verarme alltägliches Bewusstsein (vgl. II, 517-522). Dies trage wiederum zur Kolonialisierung bei, die einsetze, wenn die Angehörigen einer Gesellschaft nicht mehr in der Lage sind, die Grenzen der Wirtschafts- und Verwaltungssysteme zu erkennen.
Erst die Rationalisierung der Lebenswelt hat die moderne soziale Komplexität ermöglicht. Gegen Systemtheoretiker wie Luhmann argumentiert Habermas, dass die unabhängigen Subsysteme Wirtschaft und Verwaltung nach wie vor eine Verankerung innerhalb der Lebenswelt aufrechterhalten müssten. Dennoch stehe ihre strukturelle Dynamik im Gegensatz zum Streben nach gegenseitiger Verständigung durch Sprache. Im Gegensatz zu den Marxisten hätten Luhmann und andere zu Recht auf die fortschrittlichen Errungenschaften moderner Systemdifferenzierung hingewiesen: Indem die moderne Gesellschaft von der mühsamen Aufgabe der unmittelbar sprachlichen Koordination entscheidender Prozesse befreit wurde, eröffnete sich ein nie dagewesenes Potential für soziale Komplexität. Der Fehler des Marxismus sei die Gleichsetzung der Entstehung moderner Subsysteme mit unerfreulichen – und potentiell austauschbaren – Formen der Klassenherrschaft. Die marxistische Kapitalismuskritik sei eine Sozialtheorie, die das Kind mit dem Bade ausgeschüttet habe (vgl. II, 500 f.).
Dennoch, so Habermas, könne die marxistische Kritik erfolgreich umformuliert werden. Unter heutigen Bedingungen wendeten sich die Subsysteme der Wirtschaft und Verwaltung gegen die Lebenswelt. Da materielle Reproduktion nur auf Kosten unersetzlicher konsensabhängiger Handlungsformen stabilisiert werden könne und kommunikatives Handeln zugunsten der entsprachlichten Medien Macht und Geld über Bord geworfen werde, um die Lebenswelt wirkungslos zu machen, trügen die Subsysteme der Wirtschaft und Verwaltung nicht mehr zu sozialer Komplexität bei, sondern unterhöhlten die Grundlagen der modernen Gesellschaft (vgl. II, 292 f.). Wo sich Krisen auf der Ebene von Wirtschaft und Verwaltung nur durch Beeinträchtigung der Lebenswelt vermeiden ließen, würde diese Gegenstand der Kolonialisierung (vgl. II, 452). In Habermas’ durch Weber beeinflusster Neuformulierung des Marxismus lassen sich Krisentendenzen in Wirtschaft und Staatsverwaltung nunmehr lediglich durch die Dezimierung kommunikativen Handelns im Zaum halten. Entgegen Marx’ Hoffnung, dass sich Bürokratie und Markt letztlich transzendieren ließen, seien beide tatsächlich unersetzliche Rationalitätsformen, trotz der von ihnen gleichzeitig generierten, potenziell destruktiven gesellschaftlichen Konsequenzen.
Warum also die Wendung zu zeitgenössischer Jurisprudenz, um diesen besorgniserregenden Trend zu erklären? In Anlehnung an Weber argumentiert Habermas, dass sowohl moderner Kapitalismus als auch Bürokratie nur auf der Grundlage modernen, gesetzten Rechts abgesichert seien. In gewisser Hinsicht Weber widersprechend, sieht Habermas in modernem Recht Elemente moralisch-praktischer Rationalität, basierend auf Lebenswelt und symbolischer Reproduktion. Modernes, ›postkonventionelles‹ Recht verbinde die Lebenswelt mit Wirtschaft und Staatsverwaltung; es biete einen unentbehrlichen Treff- oder Transformationspunkt für die rivalisierenden und potentiell widersprüchlichen Dynamiken. Recht ermögliche es, dass Staatsverwaltung und Geld als Ersatz für kommunikative Interaktion wirken. Mit einem Bein in der Lebenswelt und mit dem anderen sicher in den formal organisierten Systemen der Wirtschaft und Verwaltung stehend, könne das Recht einen hervorragenden »Indikator für die Grenzen zwischen System und Lebenswelt« abgeben (II, 458). Daraus folge, dass sich Störungen in der Beziehung zwischen Lebenswelt und sozialen Systemen als ›Pathologien des Rechts‹, d. h. als Formen der ›Verrechtlichung‹, äußern. Fundamentale Krisentendenzen der heutigen Gesellschaft könnten also die Form einer ›Rechtskrise‹ annehmen.
Es ist leicht nachzuvollziehen, warum Habermas deshalb der Meinung war, dass kritische Theorie sich den scheinbar obskuren Debatten um aktuelle Rechtsentwicklungen zuwenden sollte. Vermutlich hat er die Vielzahl von Forschungsergebnissen mit Befriedigung registriert, die die theoretischen und diagnostischen Meriten seiner Theorie insgesamt zu bestätigen scheinen. Nicht nur in der BRD argumentierten Juristen und Sozialwissenschaftler energisch, dass das Recht in der Gegenwart Pathologien und Krisentendenzen aufweise.4
Habermas weist im letzten Kapitel der Theorie des kommunikativen Handelns darauf hin, dass scharfsinnige Rechtspublizisten ambivalente Formen des heutigen Aufsichtsrechts ausfindig gemacht haben, welche die Freiheit mindestens im gleichen Maße bedrohen, indem sie sie zu garantieren helfen (vgl. II, 531). Verrechtlichung – grob definiert als die Ausweitung des Formalrechts auf weitere Sozialsphären und dessen zunehmende Verdichtung – habe immer schon eine fundamentale Voraussetzung der Moderne dargestellt. Im Gegensatz zu großen Teilen der modernen Rechtsentwicklung zeigten diese Ausweitung und Verdichtung jedoch im Bereich des Sozialstaates alarmierende Tendenzen: »Schließlich ist die Allgemeinheit des Tatbestandes auf den bürokratischen Leistungsvollzug […] zugeschnitten« (II, 532), was gesellschaftliche Solidarität untergrabe und Paternalismus generiere. Gesetzliche Regelungen könnten als Vehikel dienen, mittels dessen »die mediengesteuerten Subsysteme Wirtschaft und Staat mit monetären und bürokratischen Mitteln« (II, 522) unangemessen eingreifen. Das Formalrecht geselle sich zu bürokratisch verwalteten finanziellen Entschädigungen, um komplexe Formen sozialen Handelns dem Einfluss »gewalttätiger Abstraktion« auszusetzen, was mitunter mehr schädliche als positive Folgen zeitige. Habermas geht davon aus, dass modernes Formalrecht immer schon mit einem »Handlungssystem, in dem unterstellt wird, dass sich alle Personen strategisch verhalten«, verbunden war, wodurch es in die Lage versetzt wurde, ebenso »die funktionalen Imperative eines über Märkte regulierten Wirtschaftsverkehrs [zu] erfüllen« wie die »Imperative« der Staatsverwaltung (I, 352). Die Kolonialisierung der Lebenswelt durch Subsysteme jedoch führe dazu, dass diese Beziehung von Seiten des Rechts zunehmend auf eine Weise gestaltet werde, die inkongruent ist mit kultureller Reproduktion, sozialer Integration und Sozialisierung. Die moralisch-praktischen