Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39. Wolfram Ette

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Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 38/39 - Wolfram Ette

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entzogen. Sensationalismus, Pornografie und Reklame sind Überlebensstrategien in einer Epoche, die geprägt ist durch das »Zeitungssterben« und durch eine umkämpfte Neuverteilung der legalen Zugänge zur Ausbeutung der »Ressource Aufmerksamkeit«62. So setzt sich die Kapitallogik durch – auch dort, wo sie partiell suspendiert war: in den öffentlich-rechtlichen Funkhäusern, deren Funktionäre auf hohe Publikumsquoten fixiert sind. Die Massenmedien kehren gleichsam in ihren Grund zurück – Zeitungen waren im Europa der Frühen Neuzeit Werbeprospekte der Buchdrucker und das Radio in seinen Anfängen in den USA ein Reklameorgan der Konsumgüterindustrie. Im Spanischen und Italienischen sind la publicidad und pubblicità heute die Worte für Werbung. Und in den sogenannten social media wird überwiegend Privates ausgetauscht. Es spricht Einiges dafür, dass Slavoj Žižek Recht hat, wenn er mit Blick auf das Internet feststellt: »Der öffentliche Raum verschwindet.«63

      Gegen die marktwirtschaftliche Orientierung des Handelns, das an Selbsterhaltung, Selbststeigerung und Überwältigung der Konkurrenten orientiert ist, bringt die Medienethik ihr normatives Bild von Öffentlichkeit in Stellung. Funiok zentriert es um ein Diskursmodell64, das von der Ambivalenz der Öffentlichkeit absieht. In diesem Modell gibt es vier Typen öffentlicher Äußerungen: 1. autoritäre, monologische Kundgaben, 2. Agitation und Propaganda, 3. die Befeuerung kollektiver Erregungszustände und 4. advokatorische Statements zugunsten von Benachteiligten oder zugunsten des Gemeinwohls.65 Die Sympathien sind klar verteilt: Autoritäre Verlautbarungen und agitatorische Hetze in den Medien gefährden die Demokratie; zivilgesellschaftliches Engagement für soziale Gerechtigkeit fördert sie, sofern es nicht parteiisch auf die Ziele einzelner sozialer Bewegungen fixiert ist. Und wenn öffentliche Erregungszustände aufgegriffen oder angeheizt werden, bis hin zur Formierung als Gegenmacht, könne das sowohl negative Wirkung haben als auch positive (wie im Vorfeld des Untergangs der DDR). Idealerweise zeichne sich der öffentliche Diskurs durch eine Auseinandersetzung aus, die nicht strategisch ist, sondern verständigungsorientiert und argumentativ. Im Diskursmodell der Öffentlichkeit sei Wahrheit der Maßstab für deskriptive Sachaussagen, und normative Richtigkeit, das heißt Gerechtigkeit, Maßstab für praktische Aussagen. »Es kommt zur Revision der eigenen Beiträge, zum Fallenlassen falscher Behauptungen und zum Ausscheiden unhaltbarer Argumente.«66

      Gleichberechtigter, sach- und inhaltsorientierter Diskurs, Mündigkeit und Freiheit: das sind die Werte, die sich in dem medienethischen Postulat manifestieren, nach dem sich Individuen und Instanzen im Prozess der Produktion und Rezeption von Massenmedien einer »korporative[n] Selbstverpflichtung« unterwerfen sollen – in der sie der puren Marktlogik politische Normativität entgegensetzen sollen, um ihrer demokratischen Verantwortung gerecht zu werden.

      Die Argumentationsstruktur der Medienethik ist also insofern zirkulär, als die Kategorie der Verantwortung auf den Wert der demokratischen Freiheit zurückgeführt wird und demokratische Freiheit nicht nur als Idealgrund, sondern auch als Realgrund der Verantwortung beschrieben wird.

      Heikler als die logische Unstimmigkeit ist die moralische: Mit dem Rekurs auf Verantwortung lässt sich so gut wie jedes Handeln irgendwie rechtfertigen, wenn man nicht präzise auf die Handlungszwecke eingeht und die Mittel bewertet, die dazu eingesetzt werden. »Verantwortung übernehmen« kann in der Politik heißen, dass jemand Wirtschafts- oder Außenminister wird und den Waffenexport fördert; es kann aber auch heißen, dass ein Minister zurücktritt, weil unter seiner Ägide Waffenhandel gefördert wurde.67 Im oben angeführten Beispiel wurde manipulativer Journalismus mit der sozialen Verantwortung der Besitzer der Produktionsmittel für Arbeitsplätze gerechtfertigt, die man ohne hinreichend hohe Zuschauerzahlen und entsprechende Aufträge der Werbewirtschaft gefährden würde. »Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid«68, behauptet der Ethikkodex des Presserats. Doch was hat man sich unter einer »angemessen sensationellen Darstellung« vorzustellen?

      Im Übrigen enthält nicht nur der Begriff der Öffentlichkeit eine innere Ambivalenz, sondern auch der ihm zugehörige Begriff der Mündigkeit. Darauf hat Adorno hingewiesen: Einerseits sei Mündigkeit die Bedingung dafür, dass eine Gesellschaft sich in Freiheit selbst bestimmen könne, ohne dass das Resultat mehrheitsdemokratischer politischer Entscheidungen am Ende die »Unvernunft«69 sei. Andererseits sei es in den bestehenden, naturwüchsigen Gesellschaften dem blinden Zufall und der Ungerechtigkeit unterworfen, ob Menschen zur Mündigkeit fähig würden, das heißt, ob und wie sie sprechen, denken und urteilen lernten. Daher gelte es zu begreifen, »daß schon die Voraussetzung der Mündigkeit, von der eine freie Gesellschaft abhängt, von der Unfreiheit der Gesellschaft determiniert ist«70.

      Der medienethische Verantwortungsbegriff ist zu »weit und unbestimmt gefaßt«71. Ich denke, die ethische Reflexion der Medienpraxis würde Kontur gewinnen, wenn stattdessen das Verbot, Menschen zu instrumentalisieren, zum Begründungsargument würde72. Denn das ist letztlich der normative Kern des Diskursmodells, auf das sich die Medienethik in der hier diskutierten Gestalt bezieht.

      Nach Kant sollte jeder, wenn es moralisch darauf ankommt, so handeln, dass die Maxime, also der Handlungsgrundsatz, »jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte«73. Dann würde er »die Menschheit« in sich selbst und allen anderen »niemals bloß als Mittel«, sondern »jederzeit zugleich als Zweck«74 auffassen. Kant antizipiert ein vernunftbestimmtes Allgemeines; erst als Teil davon wären wir imstande, moralisch zu handeln. Kein vernünftiger Mensch kann leugnen, dass der Endzweck moralischen Handelns die allgemeine Humanität ist. Die Pointe von Kants Moralphilosophie liegt nun, Adorno zufolge, darin, dass sie »eine Gesellschaft« kritisiert, »in der alles zum Mittel wird und in der nichts mehr Zweck ist.«75 Wenn die Menschheit nicht nur als Idee, sondern auch in Wirklichkeit »Zweck an sich selbst« wäre, müssten die besonderen Interessen und das allgemeine Interesse nicht mehr auseinanderfallen. Das ist aber bis heute nicht der Fall. Der wirtschaftsliberalistische Interessenbegriff76 bleibt auf das Eigeninteresse konkurrierender Wirtschaftssubjekte beschränkt.

      Verantwortungsethik soll den Interessenantagonismus in Schach halten, bleibt aber gleichsam zahnlos, weil Verantwortung funktional in eine Vielzahl geschäftlicher Rücksichten und Verbindlichkeiten aufgelöst wird. Als Unterscheidungscode sollte daher statt »verantwortlich oder verantwortungslos« ein anderer angesetzt werden, nämlich: »richtig oder falsch« bzw. »gerecht oder ungerecht«.

      Ich sehe zunächst zwei Möglichkeiten: Statt »Verantwortung« könnte Medienethik entweder auf das Konzept »Verständigung« zurückgreifen oder auf das Konzept »Verweigerung«. Sie hätte also die Wahl zwischen Habermas und Adorno; und vermutlich werden sich auch Perspektiven ergeben, diese Modelle zu einem dritten zu verbinden.

      Verständigung ist der Diskursethik zufolge das implizite Telos jeder Kommunikation. Diskursethik ist gewissermaßen eine »universalistische Minimalmoral aller Vernunftwesen«77. Sie leitet die Differenz zwischen Faktischem und Möglichem aus den Verständigungsmöglichkeiten in der verbalen Kommunikation ab. Weil in der Struktur des Sprechens die Idee konsensueller Verständigung als normative Zielvorstellung eingelassen sei, werde »in der realen Kommunikationsgemeinschaft zugleich deren ideale Gestalt angebahnt«, also eine gerechte Gesellschaft.78

      Im Diskurs über Medien, so könnte man hier anschließen, dürfen nur solche Normen Geltung beanspruchen, denen alle Beteiligten rational zustimmen könnten. Sämtliche Folgen und Nebenfolgen geltender Mediennormen müssen von allen Betroffenen ohne Zwang akzeptiert werden können.79 Alle, die irgendwie beteiligt sind, müssen das Recht und die Möglichkeit haben, am Diskurs über das Mediengeschehen teilzunehmen. Nicht nur als Rezipienten, sondern auch als Produzenten. Wenn die Ballung kulturindustrieller Medienmacht dies verhindert, ist sie moralisch nicht zu rechtfertigen. Der Verweis auf die Verantwortung für Arbeitsplätze und die Fortsetzung der Geschäfte kann als unzureichend zurückgewiesen werden.

      Wer mediale Botschaften in den öffentlichen Raum stellt, muss Vernunft und Menschenwürde der Adressaten achten und bereit sein, über die Grundlagen des gemeinsamen Handelns nachzudenken. In medialen

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