Malefizkrott. Christine Lehmann

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Malefizkrott - Christine Lehmann

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das dunkle Feuer, das in seinen tiefblauen Augen brannte, das schmerzliche Zucken um den Mund, das die Oberlippe emporzog und ihn halb öffnete, so daß man eine Reihe großer mormorweißer Zähne gewahrte, deutete auch jetzt auf ein schmerzlich bewegtes Inneres. Bei all dem aber konnte Thalheims Anblick auch in seiner jetzigen niedergebeugten Stellung weniger Mitleid als Ehrfurcht erwecken. Etwas Unaussprechliches, Unnennbares prägte sich in seiner Gestalt, auf seinem Gesichte aus, etwas Heiliges, Unüberwindliches.‹«

      »Was ’n Kitsch!«, seufzte ich und wischte mir eine Träne aus dem Auge, die meine zur Nadel geschmierte Haarspitze gestochen hatte.

      Richard hielt den Blick gesenkt und gestand: »Schon hier im Laden, als ich das Buch aufschlug, hat es mir genau diese Stelle angeboten. Ich befand mich damals in einer schwierigen Lebensphase. Ich hatte mich mit meinem Vater überworfen, ich fühlte mich ausgestoßen und gesichtslos. Ich suchte nach meinem Gesicht, nach einem Gestus, den ich mir und meinem Leben geben konnte. Und fand es«, wieder zuckte sein Mund peinlichst berührt, »in diesem Thalheim, dem edlen Arbeiter, dem heimlichen Schriftsteller, der sich aus Gründen unverdienter Armut hatte verdingen müssen und um seine Würde ringt. Er ist … er war lange Zeit so etwas wie ein … Vorbild möchte ich nicht sagen … eine Selbstprojektion.« Richard blickte uns über die Brillenränder hinweg herausfordernd an. »Manchmal denke ich, Bücher sind das Privateste überhaupt. Was wir mit ihnen erleben, bleibt unser Geheimnis, vielleicht unser größtes.«

      Warum lüftete er es jetzt?

      Durs hatte, ohne es zu merken, die Hand ausgestreckt.

      »Ja«, sagte Richard, »ich hatte schon damals den Eindruck, dass Sie das Buch lieber behalten hätten.«

      Durs ließ die Hand fallen.

      »Tatsächlich ist es ein Buch, das es gar nicht geben sollte. Es ist ein Unikat. Bücher sind normalerweise keine Unikate, es widerspricht ihrem Charakter. Aber dieses hier ist eines. Es ist ein Zwitter aus Alt und Neu. Es ist in Fraktur gedruckt, der Einband ist neu. Und es enthält etwas, was nicht hineingehört.«

      Richard blätterte. Wir warteten gebannt, der Buchhändler und ich.

      In der Stille hörte man Schritte von unten die Treppe herauftappen. Ein schwerfälliger Mittvierziger erschien. Er trug einen verzogenen Pullover und Jeans. Sein Kinn zierte ein geflochtener Knebelbart, die Haare hatte er zum Pferdeschwanz zurückgebunden, seine Oberlippe war rasiert. Er war Durs wie aus dem Gesicht geschnitten, nur fehlte seiner Galligkeit der Schleier des Lächelns. »Abend!«, sagte er und begab sich geschäftig hinter die Kassentheke. Er bückte sich und wuchtete ein Postpaket auf den Tisch.

      Wir wandten uns wieder Richard zu, der mit aufgeschlagenem Buch vor uns stand und darauf wartete vorzulesen. Doch was er uns präsentierte, war unerwartet anders als das »mogte« Thalheims.

      »›Mit einem neuen Gag in der vielseitigen Geschichte amerikanischer Werbemethoden wurde jetzt in Brüssel eine amerikanische Woche eröffnet: Ein ungewöhnliches Schauspiel bot sich am Montag den Einwohnern der belgischen Metropole: Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum ersten Mal in einer europäischen Großstadt jenes knisternde Vietnamgefühl, dabei zu sein und mitzubrennen, das wir in Berlin bislang noch missen müssen …‹« Richard blickte uns über die Lesebrille hinweg an. »Eine Anspielung auf den Brand im Brüsseler Kaufhaus A l’innovation im Mai 1967. Dabei kamen 322 Menschen ums Leben. Vietnamkriegsgegner hatten Böller hochgehen lassen.«

      »Übel!«, bemerkte ich.

      Durs nickte erinnerungsschwer.

      »Und hier heißt es«, fuhr Richard fort: »›Sosehr wir den Schmerz der Hinterbliebenen in Brüssel mitempfinden: Wir, die wir dem Neuen aufgeschlossen sind, können, solange das rechte Maß nicht überschritten wird, dem Kühnen und Unkonventionellen, das bei aller menschlichen Tragik im Brüsseler Kaufhausbrand steckt, unsere Bewunderung nicht versagen.‹«

      Der Bärtige hinter der Kassentheke lachte meckernd. »Nichts freut den Literaten mehr als der Tod.«

      »Das ist ein Flugblatt der Kommune 1«, antwortete Richard mit gerunzelter Stirn.

      »Und was macht das in einem Buch aus dem Vormärz?«, fragte ich.

      »Es war in Zeiten vor dem Internet eine Möglichkeit, indizierte Texte in Umlauf zu bringen, versteckt unter einem irreführenden Buchtitel und ersten Kapiteln. Orwells 1984 war so in der DDR jahrelang im Umlauf. Dieses Büchlein hier konnte im Bücherschrank eines APO-Studenten stehen, ohne Verdacht zu erregen.«

      »Da stand es aber nicht, sondern hier!«, bemerkte ich.

      »Das hat mir einer dieser Verrückten untergeschoben!«, sagte Durs. Es klang wie eine Ausrede aus der Mottenkiste.

      Der Mann mit dem geflochtenen Kinnbart lachte wieder. »Ich dachte, sie hätten dich immer nur beklaut, die Linken, nicht beschenkt.« Er hatte eine Schere in der Hand, ließ sie zweimal schnappen und hieb sie ins Klebeband des Postpakets, um es aufzuratschen.

      »›Unsere belgischen Freunde haben endlich den Dreh heraus‹«, las Richard weiter, »›die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam wirklich zu beteiligen: Sie zünden ein Kaufhaus an, dreihundert saturierte Bürger beenden ihr aufregendes Leben, und Brüssel wird Hanoi.‹«

      »Klingt schwer nach RAF«, sinnierte der Knebelbart. Er war dabei, Bücher mit callgirlrotem Cover neben der Kasse zu stapeln.

      »Die Kommune 1 war nicht die RAF!«, wies ihn Durs zurecht.

      »Aber damit hat es angefangen«, sagte Richard. »Etwa ein Jahr später, im April 1968, kundschafteten Baader, Ensslin und zwei weitere in Frankfurt Kaufhäuser aus und legten in zweien Brandsätze mit Zündzeitverzögerern …«

      Die beiden Buchhändler blickten Richard erschrocken an.

      »Äh … mit Zeitzündern«, korrigierte er sein Strafaktendeutsch, »die um Mitternacht losgingen. Das Feuer richtete nur geringen Schaden an, aber es löste die Sprinkleranlagen aus. Der Sachschaden betrug mehr als eine halbe Million Mark.«

      »Oha!«, sagte ich. »Und so ein brandgefährliches Buch hast du besessen?«

      Durs schlitzte die Augen. Also doch!, dachte er sichtbar, die gehören doch zusammen.

      »In der Tat, es hat mir in den Händen gebrannt!«, sagte Richard. »Der Zynismus der Texte hat mich erschreckt. Bis heute fällt es mir schwer, einzusehen, dass sie ironisch gemeint sind. Damals war ich ein reichlich unpolitischer, desorientierter junger Mensch, der hoffte, seine ersten Semester Jura in Tübingen zu überleben, und davon träumte, in eine schlagende Verbindung aufgenommen zu werden.«

      Durs verzog das Gesicht durchaus verzeihend.

      »Die Medien bliesen zur Jagd auf das, was sie unreife Ignoranten und Kommunisten mit SA-Methoden nannten. Man prügelte auf Demonstranten ein.«

      Wir dachten, es käme noch was, aber Richard schwieg plötzlich.

      »Und da dachten Sie, Sie legen das Buch zu Ursprung zurück, der steht eh mit einem Bein im Gefängnis«, bemerkte Durs Ursprung.

      »Nein, ich dachte daran, es zu verbrennen. Das gestaltete sich jedoch schwieriger als angenommen. Bei Nacht ist jedes Feuer hell, bei Tag gucken andere zu, auf der Neckarwiese ist man nie allein, auch im Wald nicht, und zu tief ins Unterholz

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