Leere Hand. Kenei Mabuni
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Mein Vater erhielt im Alter von 13 Jahren durch Vermittlung eines Bekannten die Erlaubnis, in eine der großen Kampfkunstschulen einzutreten. Der Leiter dieser Schule war Itosu Ankō. Aus dem Kreis der Schüler von Meister Itosu stammen viele der bekannten Persönlichkeiten, die zur Herausbildung des modernen Karate beigetragen haben. Von Itosu wird berichtet, er habe entsprechend seiner allmorgendlichen Tagesplanung jeden Tag mehrere hundert Mal gegen um Holzpflöcke gewickelte feste Strohbündel (makiwara), die man auch als Bogenziele verwendet, eingeschlagen. Seine Fäuste waren so abgehärtet, daß sie schwarzen Steinen geglichen haben sollen. Meister Itosu soll einen sehr muskulösen Körper gehabt haben. Darüber gibt es verschiedene Anekdoten. Schlug man beispielsweise mit einem Rundholz gegen seine dicken Oberarme, dann prallte der Knüttel zurück, ohne daß Itosus Arme auch nur zuckten. Ein dickes Bambusrohr konnte er ohne Mühe mit einer Hand zerquetschen, und er war so stark, daß er sich an den Deckenbalken durch den Raum hangeln konnte.
Zu jener Zeit war Karate noch nicht so verbreitet wie heute, und die Trainingsräume (dōjō) waren meist recht einfach. Häufig wurde der eigene Garten zum dōjō, und es war üblich, im Freien zu trainieren. Als Kind sah ich meinem Vater oft beim Training zu. Im Garten, unter dem Licht einer nackten Glühbirne, schlug er mit freiem Oberkörper auf ein makiwara ein. Seine Muskeln stählte er mit Hilfe von Steingewichten.
Meister Itosus dōjō stand nicht jedem offen. Nur ein ausgewählter Kreis von Schülern wurde von ihm unterrichtet. Als mein Vater 19 war, erhielt er von Meister Itosu die Erlaubnis, auch bei Higaonna Kanryō (1853-1916), einem Meister des Naha-te, Unterricht zu nehmen. Dieser war als junger Mann in der chinesischen Provinz Fukien gewesen und hatte das dortige Kempō studiert. Nach seiner Heimkehr entwickelte er auf dieser Grundlage den Naha-Stil. Miyagi Chōjun, der spätere Begründer des Gōjū ryū, führte meinen Vater bei Higaonna Kanryō ein. Beide wurden Meisterschüler von Higaonna. Man nannte sie »Drachen und Tiger«, und beide sollte eine lebenslange Freundschaft verbinden.
Außer dem Shuri-te und dem Naha-te studierte mein Vater auch den Tomari-te und andere Techniken des alten Ryūkyū-Budō. Von Meister Aragaki Seichō (1840-1920) lernte er Techniken mit dem bō, von Tawada Shinkatsu (1851-1920) Messertechniken und von Meister Soeishi Yoshiyuki spezielle Stocktechniken.
Foto 3: Higaonna (Higashionna) Kanryō (1853-1916). Er war der bedeutendste Vertreter des Naha-te.
Foto 4:Miyagi Chōjun (1888-1953). Schüler und Nachfolger Higaonnas, Gründer des Gōjū ryū.
Die Kata des Shuri-te
Karate ist eine Selbstverteidigungstechnik, die auf Okinawa seit dem 17. Jahrhundert, dem Anfang der Tokugawa-Ära, entwickelt und geheim überliefert wurde. Es diente dazu, sich mit bloßen Händen gegen mit Schwertern bewaffnete Gegner behaupten zu können. Das war, wie bereits erläutert wurde, vor allem während der Herrschaft der Satsuma-Fürsten wichtig, die den Okinawanern den Besitz von Waffen verboten hatten und jeden Widerstand unterdrückten. Die einzigen Waffen, die im Ryūkyū-Budō verwendet wurden, waren Ackergeräte.
Anders als bei den Schwerttechniken und beim Jūjutsu, welche von der Regierung in Edo und den Fürsten gefördert wurden, gab es zum Karate keine schriftliche Überlieferung. Die Meister des Karate formten die Techniken und Ideen, die auf ihren in gefährlichen Situationen erworbenen Erfahrungen beruhten, zu Kata, d. h., zu bestimmten Bewegungsabläufen, die sich allerdings von den Bewegungsmodellen anderer Kampfkünste unterschieden. Sie ähnelten den »Fausttanz« (genkotsu odori) genannten okinawanischen Tänzen. Während man sich den Gegner im Geiste vorstellte, führte man Schläge, Blöcke und Tritte als Abfolge von Angriffs- und Abwehrbewegungen aus. Das diente wahrscheinlich auch dazu, gegenüber den Behörden den wahren Charakter der Übungen zu verschleiern. Diese Kata sind die einzige Überlieferung des okinawanischen Karate. Indem der Schüler die Kata übt, eignet er sich Techniken und Geist des Karate an. Deshalb bedeutete früher die Aussage, daß jemand die »Hand«, te, erlernte, nichts anderes, als daß er die Kata übte. Die Kata wurden von den Lehrern entsprechend ihren eigenen Erfahrungen und ihren persönlichen Eigenheiten und Auffassungen arrangiert. Die Ishimine no Passai beispielsweise ist besonders für den Kampf mit kleinen Personen geeignet. Also kann man vermuten, daß Meister Ishimine selbst nicht klein war. Allein von der Kata Passai gibt es fünf Varianten, benannt nach Itosu, Matsumura, Matsumora, Tomari und Ishimine.
Im Gegensatz zu den großen Meistern Itosu und Higaonna vermittelten die meisten anderen Lehrer ihren Schülern oft nur eine einzige Kata. Unter den heute üblichen Kata des Itosu-Stils sind viele nach den Lehrmeistern oder den Herkunftsorten benannt, so z. B. die Kata Chatan Yara no Kōsōkun, Tomari no Passai, Matsumura no Passai oder Ishimine no Passai. Tomari ist ein Ortsname,35 Matsumura und Ishimine waren Lehrer. Chatan Yara no Kōsōkun bedeutet die Kata Kōsōkun (Kushanku), welche von Meister Yara aus dem Dorf Chatan stammt. Diese neuerdings auch in Wettkämpfen gern vorgetragene Kata ist im übrigen die repräsentative Kata des Shuri-te. In der von Yara überlieferten Form ist allerdings auch eine für das Naha-te sehr typische Technik, ein kreisförmiger Block (mawashi uke), enthalten. Als Wettkampfkata wurde sie jedoch erheblich umgestaltet. Die authentischen Kata des Shuri-te sind die Kata in der Form, wie Meister Itosu sie überliefert hat.
Die Jigen-Schwerttechnik und das Shuri-te
In jüngster Zeit gibt es Forschungen, die den Grundtypus der Karate-Kata in den Tao des chinesischen Kempō suchen. Sicher ist es möglich, hier Spuren zu finden, aber das Karate ist sowohl geistig als auch technisch etwas grundsätzlich anderes als das chinesische Kempō. Dies soll auf den folgenden Seiten erläutert werden.
Wie bereits erwähnt, entstammen die okinawanischen Techniken des Kampfes mit der bloßen Hand im wesentlichen zwei Hauptströmungen, dem Shuri-te und dem Naha-te. Das Shuri-te wurde als Geheimlehre innerhalb des Adels von Shuri weitergegeben und schließlich durch Matsumura Sōkon (1800-1896), dem unvergleichlichen Meister der Faust, vervollkommnet. Sein Lehrer war Sakugawa Shungo (1733-1815). Dieser war in Shuri als großer Könner auf dem Gebiet der Kampfkünste bekannt. Er hatte das chinesische Kempō, das Tōde, in China studiert und dem Adel in Shuri vermittelt. Deshalb nannte man ihn auch Tōde-Sakugawa. Er hatte sich den nördlichen Stil aus Peking angeeignet, der für manche auch als Urtyp des Shuri-te gilt. Matsumura wurde im Alter von 20 Jahren auf Befehl des Ryūkyū-Hofes nach Satsuma geschickt. Hier studierte er die Jigen-Schwerttechnik und erlangte darin den höchsten Meistergrad, den man als unyō (»Flammenwolke«) bezeichnete. Mit 27 Jahren kehrte er auf Okinawa zurück, aber schon bald hatte er Gelegenheit, Meister Sakugawa auf einer Reise mit dem Tributschiff nach China zu begleiten. So konnte