Budschakenblut. Martina von Schaewen

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Budschakenblut - Martina von Schaewen

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beiden saßen auf ihrem Fuhrwerk, vor dem zwei Pferde angeschirrt waren.

      Über dem Wagen befand sich ein halbrundes Gerüst aus gebogenen Holzstangen, darauf eine befestigte wasserdichte Plane, die vor Regen, Wind und Kälte schützen sollte.

      Olga blickte auf die zwei Plakate, die am Gebietsamt aushingen: Aufruf zur Rückkehr ins Großdeutsche Reich. Eines in deutscher, das andere in russischer Sprache. Ein freiwilliger Appell an die Deutschen in den Kolonien Bessarabiens. In Sarata trieb die Angst die Menschen fort. Die wenigen, die mit dem Gedanken gespielt hatten, in der Heimat zu bleiben, kamen schnell davon ab. Ungewissheit und Furcht, die Russen könnten die Menschen in Sibirien oder Kasachstan ansiedeln, hatte auch die letzten Ausreisegegner dazu gebracht, die Umsiedlung zu beantragen.

      Noch keinen Schritt bewegte sich das Fuhrwerk von der Stelle und Olga störte sich bereits an dem unbequemen, harten Holz der schmalen Bank, auf der sie saß. Sie stand auf und suchte hinten im Gefährt nach einer Decke. Ihr Mann erhob sich ebenfalls. Er stieg vom Wagen und ging auf die anderen Männer zu, die schweigend auf der Straße standen und sich Zigaretten reichten.

      Die Frauen und Kinder blieben auf ihren Fuhrwerken sitzen. Auch dort herrschte eine unheimliche Stille. Die Kinder trauten sich kaum, etwas zu sagen und wenn, dann flüsterten sie. Viele der Frauen hielten Taschentücher in den Händen und wischten sich damit die Tränen ab.

      Olga breitete sorgfältig die Decke auf der kleinen Holzbank aus und setzte sich darauf.

      Sie erinnerte sich an den Abschiedsgottesdienst vergangenen Sonntag in der Kirche.

      So viele Menschen waren bisher noch bei keinem Gottesdienst anwesend gewesen. Es hatte sich kein Platz mehr auf den Bänken, in den Gängen und auf der Treppe gefunden.

      Die breite zweiflügelige Holztüre der Kirche stand offen und viele nahmen im Freien, neben den vier riesigen Säulen, oder auf der Treppe, die zur Straße führte, teil.

      Die Dorfbewohner hörten zum letzten Mal die Worte ihres Pfarrers. Der Pastor konnte sich kaum aufrecht halten und stand zusammengesunken auf der Kanzel. Das lag gewiss nicht nur an seinem fortgeschrittenen Alter – er hatte vor kurzem seinen 88. Geburtstag gefeiert – sondern an den widrigen Umständen. Über viele Jahrzehnte war diese Kirche sein Zuhause gewesen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er seine sonntäglichen Predigten so lange gehalten, bis Gott ihn von der Kanzel weg zu sich gerufen hätte.

      Früher dauerten seine Gottesdienste mindestens zweieinhalb Stunden.

      Mittlerweile gingen dem Geistlichen nach einer Stunde die Worte aus, was aber keinen der Kirchgänger störte.

      Bei diesem letzten Gottesdienst sahen alle dem Pfarrer an, wie viel Kraft es ihn kostete, von der Kanzel herunter zu der Gemeinde zu sprechen.

      Den linken Arm auf das Pult gelegt, stütze er sich ein wenig ab, während der rechte Arm hin und wieder seinen Stock in die Höhe fahren ließ. Nicht mehr so schwungvoll wie all die Jahre zuvor, seine körperlichen Kräfte waren aufgebraucht.

      Seit Alois Fischer eine Gehhilfe benötigte, setzte er diese auch in den Predigten ein. So gelang es ihm, seinen Worten die nötige Bedeutung zu verleihen.

      Die Haare, die er früher sorgfältig vor jeder Predigt mit Sonnenblumenöl eingerieben hatte, waren ihm ausgegangen. Sein langer Bart, ehemals grau, hatte sich in ein unbeflecktes weiß verwandelt.

      Zehn Jahre war es jetzt her, als sein Körper zu schrumpfen begann. So wie sich des Pfarrers Körpergröße jedes Jahr um fünf Zentimeter verkleinerte, so erleichterte sich sein Leib jährlich eines Balastes von zwölf Kilogramm. Aus dem einstigen Kirchenoberhaupt von zwei Metern und reichlich Übergewicht war ein schmales, ein Meter fünfzig Männchen mit weniger als fünfzig Kilogramm geworden. Seine treue Haushälterin, die ihm seit Jahrzehnten diente und auch schon die 80 erreichte, änderte ihm jährlich seine Kleidung.

      Viele in Sarata wunderten sich über den Umstand, dass diese Frau mit den Jahren die Masse, die ihr Dienstherr verlor, zunahm. So oft wie sie seine Kleider enger nähte, musste sie sich selbst neue schneidern.

      Das einzige, das an Alois Fischer die letzten Jahrzehnte unverändert geblieben war, war seine runde Nickelbrille. Man sah ihn nie ohne Brille, obwohl er sie mittlerweile eher aus Gewohnheit, als aus Notwendigkeit auf der Nase hatte. Vorlesen ließ er sich von seiner Haushälterin.

      Alois Fischer predigte immer häufiger im Sitzen. War es ihm zu anstrengend auf der Kanzel zu stehen, ließ er sich einen Stuhl vor den Altar stellen.

      Oft geschah es, dass er mitten im Satz aufhörte zu sprechen und nicht mehr wusste, was er sagen wollte. Mürrisch zeigte er dann mit dem Stock auf ein Gemeindemitglied und forderte dieses dazu auf, den letzten Satz zu wiederholen.

      Wer nicht im Gottesdienst bloßgestellt werden wollte, tat gut daran, während der Predigt gedanklich nicht zu weit abzuschweifen.

      In ihrem ganzen Leben hatte Olga in Sarata keinen anderen Pfarrer als Alois Fischer kennen gelernt. Ihre Gottesdienstbesuche waren sehr unregelmäßig. An einem der seltenen Sonntage, an denen sie die Kirche besuchte, kam es zu einem Zwischenfall, bei dem sie immer wieder lächeln musste, wenn sie sich daran erinnerte.

      Vor dem Altar auf seinem Stuhl sitzend predigte der Pastor. Unermüdlich fuchtelte er mit dem Stock in der Luft herum. Bei seinem Lieblingsthema, der Sünde, angekommen, ging seine laute Stimme in ein Brüllen über. Doch wenig später kamen aus seinem Hals nur noch heisere Wortfetzen. So wie seine Stimme weniger wurde, so ließ auch das Hantieren mit dem Stock nach.

      Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, setzte Alois Fischer seinen Stock ab und lehnte sich im Stuhl zurück. Kein Wort fand mehr den Weg aus seinem Mund. Gespannt verfolgten die Gemeindemitglieder diese Geste und warteten ab. Aus den hinteren Reihen vernahm man ein Räuspern und so manch ein Kirchgänger rutschte ungeduldig auf seinem Hintern hin und her. Der eine oder andere nutzte die Pause, um sich die Nase zu schnäuzen oder im Geiste noch einmal vergangene Erlebnisse vor seinen Augen ablaufen zu lassen. So mancher Bauer, der bereits seit dem Morgengrauen auf den Beinen war, nickte ein oder döste abwesend vor sich hin.

      Als Alois Fischer seinen Stock fallen ließ und die Augen schloss, setzte in der Gemeinde eine unheimliche Stille ein. Jetzt richteten sich alle Augen auf den Pastor, der sich nicht mehr bewegte. Alle dachten dabei das gleiche. Der Bürgermeister der Gemeinde, der Schulz, drängte sich durch seine Bankreihe zum Gang und sprang rasch zu Alois Fischer nach vorne. Er stellte sich vor den Geistlichen und starrte ihn an. Dann beugte er sich über den Pfarrer und hob diesen mühelos aus dem Stuhl. Dabei hatte er sich vorher nicht überlegt, was er da eigentlich tat. Er sah sich um, wollte den Pfarrer ablegen, wusste aber nicht, wohin. So stand er einige Augenblicke mit dem Pastor in den Armen vor der Gemeinde, die immer noch erschrocken und sprachlos dem Geschehen folgte. In Gedanken überlegte der Schulz, was zu tun war, um dem Kirchenoberhaupt eine würdige Beerdigung auszurichten. So etwas konnte man nicht auf die lange Bank schieben, es musste zügig organisiert werden. In den Armen spürte er langsam die Kraft schwinden. Er schaute in die erstaunten Gesichter der Anwesenden, dann drehte er sich um zum Altar. Er entschied sich dafür, den Pfarrer dort abzulegen.

      Kaum berührte der Körper von Alois Fischer die kalte Marmorplatte, öffnete dieser seine Augen. Erstaunt blickte er den Schulzen an. Dieser starrte entsetzt zurück. Einige Sekunden verstrichen, dann erfüllte ein schriller Schrei aus den hinteren Bankreihen die Kirche. Das anfängliche Murmeln und Flüstern der Gemeindemitglieder ging in lebhafte Unterhaltungen über. Alois Fischer richtete seinen Oberkörper auf und setzte sich so hin, dass seine Füße vom Altar baumelten.

      Wütend schaute

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