Budschakenblut. Martina von Schaewen
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Sichtlich erholt fing der Geistliche noch einmal am Anfang seiner Predigt an. Er ließ die Gemeinde dreimal dasselbe Lied singen und keiner wusste, ob es aus Vergesslichkeit geschah oder ob sich ein tieferer Sinn dahinter verbarg. Es war, als hätte der Geistliche vergessen, dass er immer noch auf dem Altar saß. Und keiner aus der Gemeinde traute sich, den Pfarrer zu unterbrechen und darauf aufmerksam zu machen. Jeder befürchtete bei Unterbrechungen könnte der Geistliche noch einmal mit der Predigt beginnen.
Nach dem vierten Vaterunser hintereinander – auch hier verstand keiner den Grund dafür – rutschte Alois Fischer mit seinem schmächtigen Körper langsam nach vorne, bis seine Füße den Boden berührten. Auf seinen Stock gestützt schlurfte der Pastor den Gang entlang und deutete auf zwei Männer, die gehorsam zu ihm eilten. Einer hielt dem Pfarrer die Türe auf, während der andere seinen Stuhl brachte und an den Ausgang stellte. Alois Fischer setzte sich auf den Stuhl und gab jedem Einzelnen seiner Gemeindemitglieder zum Abschied die Hand.
Für die Sarataer Kirchgänger war dies ein Tag, den sie nie wieder vergessen würden. Der Gottesdienst dauerte so lange, dass sie ihren Sonntagsbraten mit den Strudeln erst zur Kaffeezeit essen konnten.
Beim Abschiedsgottesdienst dann lauschten die Menschen ergriffen den wenigen Worten des Geistlichen. Aus allen Ecken ließ sich leises Jammern und Seufzen vernehmen. Die Kinder rutschten auf den Bänken hin und her und wurden von ihren Müttern ermahnt. In dieser schicksalsschweren Stunde hatte sich Alois Fischer dafür entschieden, den Kirchenchor und die Orgel in den Mittelpunkt zu stellen. Die Gemeinde sang so ergreifend mit, dass der Geistliche hoffte, es würde den Menschen ein wenig Trost spenden.
Wenige Tage nach dem Abschied in der Kirche besuchten die Menschen zusammen mit dem Pfarrer den Friedhof. Der Weg führte sie aus dem Dorf hinaus, eine Anhöhe hinauf. Bei dem Trubel um die bevorstehende Umsiedlung hatte keiner daran gedacht, dass der Pastor diese Strecke in seinem Alter und auf seine Gehhilfe angewiesen, kaum bewältigen konnte. Anfangs schritt der Pfarrer zügig mit Hilfe seines Stockes voran, seine Gemeinde ergeben hinterher.
Kaum hatte man den Ort verlassen, stieg der Weg ein wenig an. Ohne Vorwarnung ließ sich Alois Fischer plötzlich nach hinten fallen, direkt in die Arme des Schulzen. Für einen Moment schloss der Geistliche die Augen. Als er sie wieder aufriss, begann er nach Atem zu japsen. Wie ein Maikäfer vor dem Abflug pumpte er Luft ein und aus. Seine Haushälterin rannte, so schnell es ihr Alter und ihr Umfang zuließen, herbei. Keuchend setzte sie sich auf den Boden und forderte den Schulzen auf, ihr den Geistlichen in die Arme zu legen. Seinen Kopf unter ihrem dicken Busen, wiegte sie den Pfarrer wie eine Amme einen Säugling hin und her. Sein hektischer Atem beruhigte sich und er schloss lächelnd die Augen. Die anschließenden Minuten kamen den Umstehenden wie eine Ewigkeit vor. Unvermittelt riss der Pastor die Augen wieder auf und befreite sich aus den Armen dieser Frau. Zwei kräftige Männer halfen ihm dabei und stellten ihn aufrecht hin. Alois Fischer griff nach seinem Stock, schwang ihn in die Höhe, während er den Menschen ein »Voran!« zurief. Der Ortsvorsteher überzeugte den Geistlichen jedoch davon, dass es besser wäre, sich von den kräftigsten Männern des Ortes zum Friedhof tragen zu lassen. Für die Helfer war dies allerdings keine einfache Aufgabe. Nicht das Gewicht des Geistlichen forderte ihre ganze Kraft, sondern die schwungvollen Stockschläge, die der Pfarrer zum Allmächtigen in den Himmel schickte, gefolgt von unverständlichen Litaneien.
Am Friedhof angekommen, blickten viele wehmütig auf Sarata zurück.
Malerisch erstreckte sich der Weg von hier oben, eingerahmt zwischen Sträuchern und Bäumen. Von der Anhöhe sah man über den größten Teil des Dorfes hinunter, bis zur Marktstraße.
Jeder spürte die Ergriffenheit und den Schmerz des Anderen bei dem Gedanken daran, dass sie dieses Bild ein letztes Mal vor Augen hatten. Es sollte in ihrem Gedächtnis bleiben für ihre Enkel und Urenkel.
Nach stillen Minuten wendeten sich die Ersten ab und liefen auf die Gräber ihrer Toten zu. Es galt, ein letztes Mal die Gräber zu schmücken und für immer Abschied zu nehmen.
Nicht nur die Eltern und Großeltern hatten hier ihre letzte Ruhestätte gefunden, sondern auch die Urgroßeltern, die vor über 100 Jahren den Ort Sarata gründeten.
Alois Fischer stand am Grab seines Vorgängers und versuchte ein paar tröstende Worte an die Gemeinde zu richten. Der Pfarrer verabschiedete sich von seiner Gemeinde. Jetzt wurden auch die, die bisher nicht zugehört hatten, aufmerksam. Keiner verstand so richtig, was Alois Fischer redete. Nach seinen letzten Worten: »Sarata, im Tode bin ich dein!«, legte er sich zum Erstaunen seiner Gemeindemitglieder auf das Grab seines Vorgängers und schloss die Augen. Diesmal wiegte ihn die herbeieilende Haushälterin vergeblich unter ihren dicken Brüsten hin und her.
Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen starb der Geistliche in den Armen der Frau, die jahrzehntelang treu an seiner Seite gelebt hatte.
An all das dachte Olga, während sie wünschte, dass der Transport endlich losging. Auf was wartete man noch? Sie seufzte leise und schaute auf die Nummern der Fuhrwerke. Die Wagen waren bereits in der richtigen Reihenfolge aufgestellt, denn keiner sollte unterwegs verloren gehen.
Alles in ihrem Leben erwirtschaftete musste Olga nun zurücklassen; selbst das Geld und den wenigen Schmuck, den sie besaß. Was ihr blieb, waren ein paar Decken und Kleider, wenige Fotos und Bücher.
Olgas Blick verweilte einen Moment auf dem Proviant, den sie eingepackt hatte: Gekochtes Gemüse, ein Fässchen eingelegtes Fleisch, zwei Laibe selbstgebackenes Brot. Wie weit würde es reichen?
Ihre Gedanken an zu Hause, an die vielen Dinge, die in der Stube lagen, wurden gestört durch das Läuten der Kirchenglocken, welches nun einsetzte.
Aus einem entfernten Planwagen hörte man eine Frau, die das Heimatlied anstimmte.
Viele folgten der Aufforderung und sangen mit. Aufgewühlt und ergriffen hörten sich die Worte an:
Gott segne dich, mein Heimatland!
Ich grüß` dich tausendmal,
Dich Land, wo meine Wiege stand,
Durch meiner Väter Wahl!
Du Land, an allem Gut so reich,
Ins Herz schloß ich dich ein;
Ich bleib` dir in der Liebe gleich,
Im Tode bin ich dein!
So schirme, Gott, in Freud und Leid
Du unser Heimatland!
Bewahr der Felder Fruchtbarkeit
Bis hin zum Schwarzmeerstrand!
Erhalte du uns deutsch und rein,
Send` uns ein freundlich Los,
Bis wir bei unsern Vätern ruhn
Im heimatlichen Schoß!
Olga faltete die Hände in ihrem Schoß. Sie schloss die Augen und spürte Tränen an ihren Wangen hinunterkullern. Die Lippen fest zusammengepresst, blieb ihr Mund verschlossen. Kein Ton kam aus ihrem Hals.
Selbst die Pferde an den Fuhrwerken spürten diese Traurigkeit. Aufgeregt wieherten sie, als könnten sie die Abfahrt kaum erwarten.
Langsam