Verhängnis in der Dorotheenstadt. Jan Eik
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Fasziniert hatte er zur Kenntnis genommen, dass von dem Amerikaner Samuel Morse in New York das Modell eines Drucktelegraphen aufgestellt und in Funktion gesetzt worden war. Sein erklärtes Ziel bestand darin, ein ähnliches System zur zuverlässigen elektrischen Nachrichtenübermittlung zu konstruieren. Da es sich bei einer solchen Apparatur ausschließlich um den Bedarf für militärische Belange handeln konnte, fühlte Heidenreich sich als ziviler Lehrer wie als Erfinder an der Artillerie- und Ingenieurschule durchaus am rechten Platz.
Bis 1816 hatte in Berlin nur eine allgemeine Kriegsschule mit einer kaum den Ansprüchen einer modernen Armee genügenden Ausbildung existiert. Erst die Freiheitskriege und die damit für wenige Jahre verbundene Zeit der Reformen hatten die längst notwendige Gründung einer speziellen Artillerieschule und wissenschaftlichen Ausbildungsstätte für die Ingenieur-Offiziere begünstigt. Neben einigen alten Starrköpfen waren fähige Lehrkräfte herangezogen worden. Selbst der von Heidenreich so verehrte Simon Ohm hatte an der Kriegsschule gelehrt, und sein Bruder, der Mathematiker und Universitätsprofessor Martin Ohm, gehörte zu Heidenreichs Beglückung zum Kollegium der Artillerieschule.
Mit dessen Hilfe gedachte sich Heidenreich in der Mathematik zu vervollkommnen. Nicht weniger glücklich stimmte ihn die Feststellung, dass sein Kollege Christian Philipp von Gontard seine Leidenschaft für die Physik, wenn auch nicht im gleichen Maße für die elektrische Telegraphie, mit ihm teilte.
Mit dem nur wenig älteren Major von Gontard, der ihn um mehr als Haupteslänge überragte und dem es dennoch im Gegensatz zu fast allen anderen adligen Offizieren an jeglichem Hochmut oder gar Standesdünkel gebrach, verstand sich Heidenreich in den letzten Monaten immer besser. Manchmal verbrachten sie Stunden und Tage miteinander in dem Kellerraum der Schule, den der Director Heidenreich mit einem anzüglichen Lächeln zur Verfügung gestellt hatte. Wie viele Offiziere des Lehrkörpers glaubte er nicht recht an jene wundersame Kraft, die den komplizierten Versuchsaufbauten der beiden Enthusiasten innewohnen sollte. Selbst den schmerzhaften Schlag, der seine entgegen Heidenreichs dringender Warnung zwischen zwei Kupferplatten gehaltene Hand getroffen hatte, war er geneigt, für einen Taschenspielertrick des Physikers zu halten.
Neben der Physik, die sie im Geiste vereinte, begünstigte ein weiterer Umstand die enge und bald auch freundschaftliche Beziehung zwischen Heidenreich und Gontard. Sie tolerierten gegenseitig die außerphysikalischen Vorlieben des jeweils anderen: Heidenreich die Passion des Majors, sich für die Aufklärung von Verbrechen zu interessieren, an denen es in der königlich preußischen Residenz nicht mangelte - von Gontard hingegen Heidenreichs geradezu manische Schwäche für die Genealogie des Hohenzollerngeschlechts. Dass es darin mancherlei dunkle und aufklärenswerte Punkte und Fehltritte gab, bestritt Gontard nicht, teilte jedoch Heidenreichs Leidenschaft für die illegitimen Verzweigungen und nachträglich geadelten Seitenlinien des Königshauses nicht.
Gebhardt Heidenreich sprach nicht einmal von Gontard gegenüber den wahren Grund dafür aus. Er glaubte nämlich, frühzeitig den für sein Leben entscheidenden Fleck in der Heidenreich’schen Familiengeschichte entdeckt zu haben, und das einmal erwachte Jagdfieber hatte ihn nicht wieder verlassen. Unausgesprochen war auch das ein Grund gewesen, seine Wirkungsstätte hierher nach Berlin zu verlegen, wo seit vierhundert Jahren der zu einem kräftigen Stamm herangewachsene brandenburgisch-preußische Hauptzweig der Hohenzollern herrschte und sich legitim wie illegitim fortpflanzte.
Seine Mutter, so hatte Gebhardt schon in zartem Kindesalter den verstohlenen Gesprächen der Erwachsenen abgelauscht, konnte mit verstecktem Stolz auf ihre enge Verwandtschaft mit den sigmaringerischen Fürsten blicken, war sie doch die Frucht eines großmütterlichen Fehltritts, dessen männlichen Part zweifelsfrei ein namentlich Ungenannter aus der fürstlich-hohenzollernschen Sippe gespielt hatte. Trotz intensiver Bemühungen und jahrelanger Nachforschungen war es Gebhardt zu seinem Leidwesen nicht gelungen, den ehrlosen Erzeuger eindeutig zu identifizieren, über den die Großmutter - in ihren jüngsten Jahren eine gefeierte Elevin am fürstlichen Hoftheater - so beharrlich jede Auskunft verweigerte. Den ehrfurchtgebietenden Großvater darauf anzusprechen hätte niemals jemand gewagt.
Erst spät war dem Enkel der mutmaßliche Zusammenhang zwischen dem Wohlstand im Haus der Großeltern und der andauernden großmütterlichen Diskretion aufgegangen. Mit größter Wahrscheinlichkeit waren seine eigenen Studien mit hohenzollernschen Schweigegeldern finanziert worden! Eine Erkenntnis, die ihn tief getroffen, jedoch in seiner Absicht bestärkt hatte, sich der Aufklärung der Geheimnisse in der weitverzweigten Stammtafel seines wahren Großvaters zu widmen.
Dass sich daraus keinerlei Erbansprüche ableiten ließen, war ihm schnell klargeworden, minderte jedoch seine Wissbegierde nicht im Geringsten. Erst vor einigen Tagen war ihm ein Dokument in die Hände gefallen, das ihm die unumstößliche Gewissheit über die nichteheliche Abkunft eines gewissen Prinzen zu bieten schien. Immer wieder hatte er es studiert, bevor es in dem Versteck verschwand, das er seit einiger Zeit für diesbezügliche Papiere benutzte. Eines Abends nämlich hatte ihm Albertine voller Verlegenheit von einem vorgeblichen Besucher des prinzlichen Vorreiters berichtet, dem sie unverhofft auf der steilen Stiege zur Mansarde begegnet war.
Es handelte sich um einen Mann mittleren Alters, recht ordentlich gekleidet und frisiert, der trotz fehlender Livree durchaus als Bote des prinzlichen Hauses gelten konnte. Dennoch blieb Albertine misstrauisch. Kam der etwa direkt aus Heidenreichs Laboratorium, nachdem er möglicherweise bereits dessen Stube durchsucht hatte? Zur Rede gestellt, wusste der angebliche Bote nur Ungereimtes zu seiner Entschuldigung vorzubringen, bis der als Zeuge angerufene und von einer Spirituswolke umflorte Vorreiter ihm bescheinigte, die Spielvogel’sche Stube erst wenige Augenblicke zuvor verlassen zu haben.
Gestohlen hatte er nichts. Heidenreich vermutete dennoch Böses und war seitdem auf der Hut. Fortan verbarg er alle wichtigen Aufzeichnungen und Papiere. Hätte er erfahren, dass Albertine dem fremden Besucher wenige Tage darauf ein weiteres Mal begegnet war, so hätte ihn die Angelegenheit wohl noch stärker beunruhigt. Der Mann hatte Albertine auf offener Straße ganz unverblümt angesprochen und nach ein paar einleitenden Schmeicheleien begonnen, sie über die Bewohner ihres Vaterhauses auszuhorchen. Dabei ließ er durchblicken, zu derartiger Kundschafterei durchaus berechtigt zu sein. Überdies sei sie allein wegen der nicht vergessenen Bekanntschaft mit einem gewissen Ludwig zu derartigen Auskünften verpflichtet, und es sollte nicht ihr Schaden sein, ihm damit behilflich zu sein.
Aufgewühlt von Ludwigs Erwähnung und gerade deshalb voller Empörung, hatte Albertine sich abgewandt und den dreisten Kerl dabei so heftig mit ihrem gefüllten Marktkorb getroffen, dass er über dem tiefen Rinnstein ins Stolpern geriet, seinen Zylinder verlor und seine Haartracht ihm über die ein wenig hervorquellenden Augen rutschte.
Albertine, eingedenk der Unruhe, in die bereits der erste Auftritt des Subjektes den Doktor Heidenreich versetzt hatte, verlor trotz aller Furcht, die sie vor allem Ludwigs wegen empfand, auch ihren Eltern gegenüber kein Wort über das beklemmende Erlebnis. An diesem Abend jedoch, nachdem Heidenreich seinen Kaffee getrunken hatte, war sie drauf und dran, ihm von dem glubschäugigen Spitzel zu berichten, den sie kurz zuvor bei einem Blick aus dem Fenster bemerkt hatte.
Heidenreich jedoch blickte auf seine Repetieruhr, die offen auf dem Tisch vor ihm lag, und sprang auf. »Mein Gott, Gontard muss längst zurückgekehrt sein aus seiner Einöde!«, rief er aus. »Er wird höchst gespannt auf meine neuesten Erkenntnisse warten!«
Daran zweifelte Albertine ein wenig, brachte es aber nicht übers Herz, Heidenreichs Euphorie zu dämpfen. Er glaubte stets, alle Welt müsse sich brennend für das interessieren, was ihn