Tod im Thiergarten. Horst Bosetzky
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»Nehmen Sie die Arme hoch, stehen Sie auf und gehen Sie zur Tür!«
Karbusch wusste, dass sein Leben auf der Kippe stand. Jetzt entschied sich: Zuchthaus oder Amerika. Und da er nichts mehr zu verlieren hatte, riss er ein Messer aus seiner Umhängetasche und stürzte sich auf den Mann, der ihn dingfest machen wollte.
Die Vereinigte Artillerie- und Ingenieurschule war 1816 gegründet worden und seit 1823 Unter den Linden 74, Ecke Wilhelmstraße in einem repräsentativen Gebäude untergebracht, das kein Geringerer als Karl Friedrich Schinkel entworfen hatte. Hier fand in einjährigen Kursen die Aus- und Fortbildung der Lieutenants statt, die zuvor eine Kriegsschule besucht und anschließend ein zwei- bis dreijähriges Truppenpraktikum absolviert hatten. Um ihre Ausbildung abzuschließen, mussten sie am Ende ihr Examen bestehen. Lehrveranstaltungen fanden in den Fächern Artillerie- und Ingenieurwissenschaften, Mathematik, Chemie, Physik, Terrainlehre, Taktik, Kriegsgeschichte, Pferdekenntnis, Zeichnen, Englisch und Französisch statt. Dazu kamen Übungen im Terrainaufnehmen und Besuche bei den technischen Artillerie-Instituten.
Christian Philipp von Gontard vertrat das Fach Physik unter besonderer Berücksichtigung der Ballistik. Der galt auch seine heutige Einführungsveranstaltung: »Ballistik, meine Herren, leitet sich vom griechischen Wort für ›werfen‹ ab - und ist die Lehre von den geworfenen Körpern. Als Vater der Ballistik gilt der italienische Mathematiker Nicolo Tartaglia, geboren 1499 oder 1500 in Brescia, so genau weiß man das nicht, gestorben 1557 in Venedig. Er entdeckte die Wurfparabel. Sein Familienname ist nicht bekannt, er nannte sich aber selbst Tartaglia, und zwar aus folgendem Grund: Als die Franzosen im Februar 1512 seine Geburtsstadt Brescia plünderten und ein schreckliches Massaker anrichteten, wurde er von einem Soldaten mit Schwerthieben am Kopf und im Gesicht schwer verletzt, so dass er ohne Vollbart wie ein Monstrum ausgesehen hätte. Eine der Verletzungen ging quer durch den Mund und die Zähne, weshalb er eine Zeitlang nicht richtig sprechen, sondern nur stottern konnte. Das brachte ihm den Spitznamen Tartaglia, der Stotterer, ein, unter dem er noch heute bekannt ist.«
Gontard machte eine kleine Pause, um die Neugierde seiner Zuhörer zu befriedigen, denn es wurde heftig getuschelt, dass er, Gontard, dann wohl Glück gehabt habe.
»Ja, meine Herren, das habe ich wohl. Die Verletzung an meiner rechten Wange ist nicht die Folge des Auftreffens eines geworfenen Körpers, sondern die eines abgewehrten Messers, mit dem ein seit langem gesuchter Einbrecher seine Festnahme durch mich verhindern wollte.«
Man klatschte Beifall, und er verbeugte sich kurz.
»Danke! Nun aber zurück zu unserem zentralen Untersuchungsgebiet: der ballistischen Kurve, deren Idealisierung die Wurfparabel ist. Genauer gesagt ist die ballistische Kurve die von der idealen Wurfparabel abweichende Kurve unter Einfluss des Luftwiderstandes. Versuchen wir, dies mit Hilfe der Mathematik besser zu verstehen, und wenden uns dem ersten Newton’schen Gesetz zu, dem Trägheitsgesetz …«
So verging der Tag, und als Gontard die Artillerieschule verließ, war er ziemlich erschöpft. Der Kampf mit Franz Karbusch forderte seinen Tribut. Es war nicht einfach gewesen, den Mann zu überwältigen. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, auf ihn zu schießen, und nur mit Mühe und Not geschafft, dessen Messer auszuweichen. Der Griff ans Handgelenk war zwar spät gekommen, aber immerhin noch rechtzeitig genug, um Schlimmeres zu verhindern. Im Ringkampf war er dem Kolporteur dann um einiges voraus gewesen und hatte ihn schließlich nach einem Warnruf aus dem Fenster einem Constabler übergeben können.
Gontard schlenderte die Linden hinunter und hoffte, auf jemanden zu treffen, mit dem sich bei einem Schoppen Wein über das Erlebte plaudern ließ. Doch es war wie verhext: Es lief ihm niemand über den Weg, den er gut genug kannte. So blieb ihm nur der Gang ins Café. Sein Freund Friedrich Kußmaul war aber zu dieser Zeit sicherlich noch nicht bei Stehely, dazu hatte er immer zu viele wartende Patienten in seiner Praxis sitzen. Gontard überlegte einen Augenblick, dann entschloss er sich zu einem Umweg über die Mittelstraße, wo beim Schneidermeister Hoppe eine Weste abzuholen war. Aber nicht nur dieses Kleidungsstück trieb ihn dorthin, sondern auch die Neugierde. Warum sich ein derart lebensfroher Mensch wie der Geselle Ludwig Dölau erhängt hatte, wollte ihm nicht so recht eingehen.
Hoppe entschuldigte sich vielmals, dass Gontards Weste noch nicht fertig war, doch der winkte ab. »Ich weiß: Dölau …«
Hoppe rang die Hände. »Ja, wir sind fassungslos. Wo er immer so fröhlich gewesen ist! Aber da muss etwas gewesen sein …«
Gontard horchte auf. »Was muss gewesen sein?«
Der Schneidermeister verwies auf den Abschiedsbrief, dessen Inhalt er auswendig kannte. »Meine liebe Braut, ich bitte Dihr um Vergebung, aber ich konte nicht anders. Meine Schult wiecht zu schwer. Dein Ludwig.«
»Meine Schuld wiegt schwer …«, wiederholte Gontard.
»Aber was das für eine Schuld ist, darüber ist noch nichts bekannt?«
»Nein, seine Braut, die Anna, weiß auch nichts Genaueres, sagt aber, dass er manchmal mehr Geld hatte, als er bei seinem Lohn hätte haben dürfen.«
Gontard fiel dazu auch nichts weiter ein als ein langgezogenes »Hm …«. Vielleicht hatte sich Dölau auf dieselbe Art und Weise ein kleines Zubrot verdient wie dieser Karbusch, denn auch ein Schneidergeselle hörte viel und hatte immer wieder spät fertig gewordene Kleidungsstücke zu den Kunden zu bringen, konnte sich also unauffällig in der Stadt bewegen. Aber ach, was ging ihn dieser Dölau an! Was ihn interessierte waren Morde - aber keine Selbstmorde. Die waren Sache der Pfaffen.
»Wenn ich Sie höflich bitten darf, einen Augenblick zu warten, Herr von Gontard«, sagte der Schneidermeister mit einer leichten Verbeugung. »Ich werde Ihre Weste selbst mit den letzten Knöpfen versehen.«
»Gern.« Gontard hatte ja Muße genug.
Hoppe brachte ihm zudem ein Journal. »Wenn Sie sich damit ein wenig Ihre Zeit vertreiben möchten …«
Gontard bedankte sich und begann, darin zu blättern. Der Name Magnus Kahlbaum stach ihm ins Auge, den kannte er von Stehely her. Hin und wieder schrieb der etwas, diesmal war es ein Essay über das Rauchen, das in Berlin immer mehr zur Mode wurde.
IN BERLIN RAUCHT ES NICHT NUR AUS ÖFEN UND SCHORNSTEINEN
Das Kraut, das in England von Sir Walter Raleigh eingeführt wurde, hat nun auch Berlin erobert und verbreitet sich in allen Gesellschaftsschichten. Jeder - ob hoch oder niedrig - zieht den Dampf der virginischen Blätter mit mehr oder weniger Wohlbehagen in sich hinein und stößt ihn mit mehr oder weniger Andacht von sich. Schon die Jugend, die noch das harte Holz der Schulbank drückt, schleicht sich mit einer stibitzten Cigarre heimlich ins entlegene Gartenhaus, um später von der Mutter, deren Geruchssinn sie nicht täuscht, mit dem Rohrstock gestraft zu werden - was aber auch nichts fruchtet. Später, als Commis oder Student, frönen die Jungen weiterhin dem geliebten Laster. Der Verkehr mit den Damen, die um ihre feinen Tüllesachen fürchten, erlaubt dem Commis den ersehnten Genuss aber nur nach geschlossenem Geschäft. Wird er zum Dandy, steckt er, um seine zarten Lippen besorgt, seine Cigarre in eine Spitze aus Horn. Eine akademische Laufbahn berechtigt zur Benutzung einer Pfeife. Der Beamte nimmt die möglichst lange Röhre aus Buchsbaum oder Meerschaum, die vorn mit Silber beschlagen ist, und raucht aus ihr seine Cigarre. Der Jüngling dagegen, der des Ladenhütens überdrüssig geworden ist und sich der großen Kaste der Handlungsreisenden angeschlossen hat, gibt sich kosmopolitisch und damit der türkischen Pfeife den Vorzug. Mit Schibuck und Fez liegt er jeden Morgen, ehe er sich zum