Aufruhr am Alexanderplatz. Horst Bosetzky
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Читать онлайн книгу Aufruhr am Alexanderplatz - Horst Bosetzky страница 3
»Ich weiß nur, dass Friedrich Engels aus Barmen kommt – das liegt bekanntlich nicht weit entfernt von Wahn – und einen ganzen Haufen von Brüdern und Schwestern hat.« Gontard hielt inne und überlegte. »Aber wenn die Marie mit ihm verwandt gewesen wäre, hätte sie mir doch von ihm erzählt.«
»Warum sollte sie das tun?«, fragte Kußmaul. »1838 hat ihn doch noch niemand gekannt.«
»Gut, lassen wir das Thema.« Gontard wies auf die Zeitungen, die an der Wand am Haken hingen und die er noch nicht studiert hatte. »Was gibt’s denn Neues in Berlin und anderswo?«
»Im Augenblick nicht viel, aber das könnte sich in Bälde ändern.«
»Wieso denn das?«
»Ich habe einen Patienten, der gerade aus Paris gekommen ist – und da soll es mächtig gären.« Kußmaul senkte die Stimme. »Der Thron des französischen Königs Louis-Philippe wackelt beträchtlich. Das Bürgertum ist enttäuscht von ihm, weil er dem Adel die Rückeroberung seiner Privilegien beschert hat, und die Arbeiter stöhnen über ihre verzweifelte Lage und sind nahe daran, erneut auf die Barrikaden zu gehen.«
»Selbst wenn es in Frankreich wieder eine Revoluton gäbe, würde sich hier bei uns nichts ändern – so wie 1789.« Gontard gab sich in dieser Hinsicht keinerlei Illusionen hin. »Weder der Weberaufstand in Schlesien noch Bettina von Arnims sozialkritische Schrift Dies Buch gehört dem König haben hierzulande irgendjemanden aus seiner wohligen Lethargie gerissen.«
»Nun ja …« Kußmaul wusste nicht richtig, wo er ansetzen sollte. »Neulich habe ich in der Jung’schen Apotheke, an der Ecke Neue Königstraße und Barnimstraße, ein wenig mit dem Apotheker Fontane geplaudert, und der meint, dass die meisten Bürgersleute die politischen Verhältnisse satthätten. Nicht, weil sie sonderlich unter ihnen leiden würden, nein, sondern weil in Preußen alles so furchtbar antiquiert sei, als habe man am Hofe und in seiner Umgebung das letzte halbe Jahrhundert verschlafen.«
Gontard schüttelte den Kopf. »Auch im Adel gibt es genügend Menschen, die darunter leiden, dass wir keine Pressefreiheit haben, von einer liberalen Verfassung ganz zu schweigen, und dass wir von der Politischen Polizei auf Schritt und Tritt bespitzelt werden. Die Armut nimmt nie gekannte Ausmaße an. Nahrung und Wohnraum werden immer teurer, und schon ein Viertel aller Berliner ist so arm, dass man sie von der Mietsteuer befreien muss.«
Kußmaul zog seine Taschenuhr hervor. »Entschuldige, ich muss in die Sprechstunde. Meine Patienten warten schon.«
»Henriette wird auch schon ungeduldig sein, weil ich noch nicht zu Hause bin.« Damit erhob sich auch Gontard.
Als sie auf den Gensdarmen-Markt herausgetreten waren, verabredeten sie sich für den Abend, dann strebte Kußmaul seiner Ordination entgegen und Gontard dem häuslichen Herd in der Dorotheenstraße. Nach seiner Beförderung vom Major zum Oberst-Lieutenant – pünktlich zu des Königs Geburtstag – hatte er das Haus, in dem er bislang nur Mieter gewesen war, gekauft und seine Frau und die beiden Kinder endgültig vom Gut Wutike nach Berlin geholt. Es war auch höchste Zeit gewesen, denn Henriette war ihm immer fremder geworden, und die Kinder, Ferdinand und Luise, hatten ihn mehr als Onkel denn als Vater gesehen.
Mit sich und der Welt weithin zufrieden, schlenderte Gontard die Friedrichstraße hinauf und kam, nachdem er die Behrenstraße gekreuzt hatte, von der Friedrichin die Dorotheenstadt.
Die Dorotheenstraße, benannt nach der Kurfürstin Dorothea, reichte vom Kupfergraben bis zur Casernenstraße am Rande des Thiergartens. Gontard genoss es, in dieser Straße zu wohnen, in der sich ein ansehnliches Haus an das andere reihte, und erzählte Ortsfremden immer mit einem gewissen Stolz, welche Geistesgrößen hier in den letzten zwei Jahrzehnten Quartier genommen hatten. Zu ihnen gehörten der berühmte Arzt Christoph Wilhelm Hufeland und der Philosoph Arthur Schopenhauer, beide noch zu Zeiten hierher gezogen, da die Dorotheenstraße den Namen Letzte Straße getragen hatte, weil sie die letzte Straße in der Dorotheenstadt nach Norden hin war. Außerdem hatten hier der Apotheker und Chemiker Andreas Sigismund Marggraf gewohnt, dem Europa die Entdeckung des Zuckers in der Runkelrübe verdankte, und Enrique Gil y Carrasco, ein spanischer Schriftsteller, der mit Wilhelm und Alexander von Humboldt befreundet gewesen war und mit seinem romantischen Roman Der Herr von Bembibre einiges Aufsehen erregt hatte.
Vor seinem Haus angekommen, fand Gontard seine Tochter und seinen Sohn mit den Nachbarskindern in einen heftigen Streit verwickelt. Sie hatten sich darauf gefreut, die Schlacht von Waterloo nachzuspielen, aber nun wollte niemand der Napoleon sein.
»Soll ich Bonaparte sein?«, fragte Gontard.
»Nein, Papa!«, erregte sich sein Ferdinand. »Das geht doch nicht, du bist zu stark, dich kann keiner besiegen.«
Die Bewunderung, die sein 14-Jähriger ihm entgegenbrachte, freute ihn. Doch dann brach der Pädagoge in ihm durch, schließlich war er schon seit Jahren Lehrer an der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule, und er erklärte den Kindern, dass sie es wie die Schauspieler sehen müssten. »Wer auf der Bühne einen Mörder spielt, kann doch im wirklichen Leben ein herzensguter Mensch sein, der keiner Fliege etwas zuleide tut, und wer im Königlichen Schauspielhaus den Napoleon gibt, der ist im wirklichen Leben vielleicht ein glühender preußischer Patriot. Und jeder gute Schauspieler reißt sich um die Rolle des Napoleon, weil es sich um einen interessanten Charakter handelt.«
Nun wollten auf einmal alle der Napoleon sein, und Henriette, die alles vom Fenster aus verfolgt hatte, klatschte Beifall. »Ich bewundere dich, Christian, wie du alle Probleme im Handumdrehen lösen kannst«, rief sie nach unten.
»Hm, ja …« Nun konnte er seine Autorität als Königlich Preußischer Oberst-Lieutenant nutzen und von sich aus den Napoleon bestimmen – oder aber die Kinder losen lassen. Aber eigentlich hätte er, der sich so sehnsüchtig ein Parlament nach amerikanischem Muster wünschte, alle des Längeren diskutieren und dann abstimmen lassen müssen. Dies alles zu bedenken erforderte einige Zeit. Zu viel Zeit, meinten seine Kinder und ihre Freunde.
»Papa, dann spielen wir lieber, wie Königin Luise stirbt!«, rief seine Tochter gleichen Namens, nun auch schon zwölf Jahre alt.
»Ja, eine wunderbare Idee!« Da sie das einzige Mädchen war, gab es bei diesem Spiel sicher keinen Streit um die Rollenverteilung. Um aber seine Tochter nicht leblos auf einem Katafalk, sprich ihrem Handwagen, liegen zu sehen, machte er, dass er ins Haus kam.
Gontard trat in den Flur und eilte in die erste Etage hinauf, wo ihn seine Frau erwartete. Dabei rief er: »O was macht doch mein Herz für einen Sprung, wenn ich dich nur sehe!« Das war eine Anspielung darauf, dass seine Henriette eine geborene von Herzsprung war.
»Herr Oberst-Lieutenant belieben zu schmeicheln.«
»Wenn, dann nur in der Absicht, Euch zu verführen, liebste Baroness.«
»Das wird Euch nicht leichtfallen …«
Doch Gontard gelang genau dies, ehe ihre Mamsell vom Einkaufen zurück war. Bis zum Mittagessen konnte er sich nun ein wenig erholen, danach hatte er zu seiner nachmittäglichen Lehrveranstaltung in den Hörsaal zu eilen. Die Vereinigte Artillerie- und Ingenieurschule war 1816 gegründet worden und hatte 1823 Unter den Linden No. 74, an der Ecke zur Wihelmstraße, ein repräsentatives Hauptgebäude bekommen. In einjährigen Kursen wurden hier die Lieutenants ausgebildet, die bereits auf einer Kriegsschule gewesen waren und danach zwei oder drei Jahre Dienst bei der Truppe geleistet hatten. Das Curriculum beinhaltete nicht nur die Fächer Artillerie- und Ingenieurwissenschaften,