Aufruhr am Alexanderplatz. Horst Bosetzky

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Aufruhr am Alexanderplatz - Horst Bosetzky

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Wirt soll ick festneh’m?«, fragte er Werpel.

      »Welchen Wirt Sie festnehmen sollen?«, wiederholte Werpel, der sich darauf beim besten Willen keinen Reim machen konnte.

      »Na, den, der det zu dünne Bier ausjeschenkt hat.« Werpel seufzte. Es stimmte leider, was viele von Krause behaupteten: dass er dümmer sei, als die Polizei erlaubte. Er erklärte ihm, dass der Ermordete den Namen Ferdinand Dünnebier trug.

      »Det muss doch ’m dummen Menschen jesagt werden«, maulte Krause.

      »Darum sag ich’s Ihnen ja.« Werpel wandte sich an Kugler, da sie nun das Gotteshaus erreicht hatten und auf der Nordseite umrundeten, um in die Nikolaikirchgasse zu gelangen. »Wo genau liegt denn nun der tote Dünnebier?«

      »Da drüben, vor der Wenzel’schen Holz- und Kohlenhandlung.«

      Werpel staunte, als sie die besagte Stelle erreicht hatten.

      »Da liegt aber keiner!«

      »In der Tat«, musste Kugler einräumen.

      »Dabei is doch noch ja nich Himmelfahrt«, stellte Krause fest.

      Christian Philipp von Gontard hatte als Königlich Preußischer Oberst-Lieutenant viele dienstliche Pflichten, und eine von ihnen war die Teilnahme an den Beerdigungen hochrangiger Militärs. Die wurden – sofern sie denn einen Platz in Anspruch nehmen mussten, weil sie keinen eigenen Landbesitz in Preußen hatten – auf dem Invalidenfriedhof beigesetzt. Inzwischen lagen hier viele Helden der Befreiungskriege, und im Februar 1848 waren Leopold Hermann Ludwig von Boyen und Johann Friedrich Constantin von Lossau dazugekommen. Letzteren schätzte Gontard ganz besonders, weil dessen Standardwerk Ideale der Kriegsführung, in einer Analyse der Thaten der größten Feldherren für seine Lehrveranstaltungen im Fach Kriegsgeschichte unentbehrlich war. Die Entscheidungen von Alexander dem Großen, Hannibal, Caesar, Gustav Adolf, Turenne, dem Prinzen Eugen, Friedrich dem Großen und Napoleon wurden darin kenntnisreich diskutiert. Dabei teilte Gontard Lossaus Meinung voll und ganz, dass nur derjenige Feldherr auf Dauer erfolgreich sein konnte, der seine Entscheidungen nicht nach starren Regeln der Kriegskunst, sondern aufgrund der örtlichen Gegebenheiten und besonderen Verhältnisse traf und konventionellem Denken nicht verhaftet war.

      Als der Trauerredner über Lossau sprach, hörte Gontard ganz genau zu und machte sich sogar heimlich Notizen, um das Gehörte in seine Vorlesungen einfließen lassen zu können.

      »Johann Friedrich Constantin von Lossau wurde am 24. Juli 1767 als Sohn eines preußischen Generals der Infanterie in Minden geboren. Bekannt geworden ist er vor allem als Militärhistoriker …«

      Auf dem Weg von der Kapelle zur Grabstelle hatte Gontard einen Mann mittleren Alters vor sich, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Er war untersetzt und ging mit leicht schlurfenden Schritten. Mit seinem Nebenmann unterhielt er sich leise in einer Sprache, die Gontard erst für Polnisch, dann für Litauisch hielt, von der er aber kein Wort verstand außer »Lossow«.

       »Taip, mūsų draugas buvo labai puikus vyras Lossow, ir dabar mes turime vykdyti jį jo kape …«

      Als sie dann am offenen Grab Aufstellung genommen hatten, um den letzten Worten des Garnisonpredigers zu lauschen und zu warten, bis sie ihre drei Hände Sand auf den inzwischen herabgelassenen Sarg werfen konnten, drehte der andere ihm sein Gesicht zu, und bei Gontard zündete es sofort: Richard von Randersacker, Schießplatz Wahner Heide. Nach Ende der Zeremonie fand er dann Gelegenheit, Randersacker anzusprechen. »Christian Philipp von Gontard, Oberst-Lieutenant und Lehrer an der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule Unter den Linden. Sie erinnern sich an unsere erste Begegnung?«

      In Randersackers breitem und etwas teigigem Gesicht begann es zu arbeiten. »Nein, ich bedauere sehr …«

      Gontard half ihm auf die Sprünge. »Schießplatz Wahner Heide. Das Vergleichsschießen, bei dem die junge Marie Engels ums Leben gekommen ist.«

      Randersacker lächelte. »Normalerweise töten ja unsere Granaten nur Männer, und wenn es damals auch einmal eine Frau getroffen hat, dann ist das nur Gottes ausgleichende Gerechtigkeit.«

      So viel Zynismus war Gontard nicht gewohnt, und so dauerte es einen Moment, bis er sich gefangen hatte und Randersacker fragte, welche Konsequenzen der Schießunfall für ihn gehabt habe.

      »Keine. Weshalb denn auch?«

      Gontard war nicht bereit, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. »Weil Sie die Schussbahn der Kanonen mit den neuartigen Kolbenverschlüssen falsch berechnet hatten und der verantwortliche Mann auf dem Schießplatz waren.«

      Randersacker winkte ab. »Da war vorher nichts abzusehen und zu berechnen, das war alles technisches Neuland. Keiner kann mir in dieser Hinsicht einen Vorwurf machen.«

      Gontard schwieg jetzt lieber. Seiner Meinung nach hätte man exakter rechnen können und mehr Vorsicht an den Tag legen müssen. Wäre Randersacker vor ein Gericht gebracht worden und er der Richter gewesen, so hätte er ihn wegen fahrlässiger Tötung zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Aber Randersacker war nicht angeklagt worden, dazu hatte er viel zu gute Beziehungen zum Hofe und zu einflussreiche Freunde im Kriegsministerium.

      »Nichts für ungut«, sagte Gontard, als er sich von Randersacker abwandte.

      »Sollten Sie in Ihrer Anstalt etwas von sich geben, das meine Ehre antastet, dann gnade Ihnen Gott!«, zischte Randersacker noch.

      Die Wilhelmstraße war nach 1731 auf Geheiß von Friedrich Wilhelm I. bei der Erweiterung der Friedrichstadt angelegt worden. Anfangs hatte sie noch den Namen Husarenstraße getragen. In ihrem nördlichen Teil hatten sich bald darauf Minister und Vertraute des Königs ihre Palais hinstellen lassen, so auch Richard von Randersacker.

      Getrieben von Langeweile, streifte der nach dem Frühstück durch die Gänge seines Prunkbaus. Vielleicht traf er auf das neueingestellte Dienstmädchen, diese Auguste Gärtner, und vielleicht ließ die sich für ein paar Thaler kurz von der Arbeit ablenken. Auch eine Küchenmamsell war ihm recht. Die fühlte sich womöglich sogar noch geehrt, wenn er sich herabließ, ihr kurz beizuwohnen. Und wenn sich in dieser Hinsicht nichts ergab, dann wollte er wenigstens auf Menschen treffen, mit denen er sich streiten konnte.

      Doch das Glück war ihm hold, denn als er an der Wäschekammer vorbeikam, sah er durch die offenstehende Tür Auguste, wie sie Tischtücher von der Leine nahm und in eine Truhe legte. Dabei beugte sie sich so weit nach unten, dass ihn der Wunsch überkam, hinter sie zu treten und ihr auf der Stelle die Röcke hochzuschieben. Er wollte schon zur Attacke übergehen, da tauchte seine Frau hinter ihm auf.

      »Hände weg von dem Mädchen!«, zischte sie. »Nicht, dass ich dir den Spaß nicht gönne, aber Augustes Bräutigam schlägt dir den Schädel ein, wenn er davon erfährt.« Auguste hatte alles mitbekommen, drehte sich um und lachte. »Ja, det stimmt, gnä’ Frau, den Ferdinand Dünnebier ham se wejen mir schon erschlagen.«

      Randersacker machte, dass er weiterkam. Als Nächstes lief ihm sein Kammerdiener über den Weg.

      »Ist Ihnen nicht wohl, Herr Baron?«, fragte der. »Sie sehen so blass aus.«

      Randersacker stöhnte laut. »Jacques, ich brauche unbedingt eine Frau …«

      Der Kammerdiener grinste. »Da trifft es sich ja gut, dass Flora wieder in Berlin ist …«

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