Aufruhr am Alexanderplatz. Horst Bosetzky
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Читать онлайн книгу Aufruhr am Alexanderplatz - Horst Bosetzky страница 5
Werpel kniff die Augen zusammen. »Ich dachte, der Innenminister habe Ihnen das ausdrücklich untersagen lassen …«
Gontard lachte. »Nein, das hat Herr von Bodelschwingh nicht getan.« Am liebsten hätte Gontard hinzugefügt: Schließlich schätzt er mich als einen Liberalen und ist mit seinem König alles andere als d’accord. Aber das brauchte er Werpel nicht auf die Nase zu binden. »Ich hätte zu gern einmal gewusst, wer sich an den Minister gewandt hat. Haben Sie da einen Verdacht?«
Werpel drehte sich um. »Meine dienstlichen Pflichten gestatten mir leider keine längere Plauderei. Adieu, Herr Oberst-Lieutenant!«
Gontard sah dem Criminal-Commissarius schmunzelnd hinterher. Irgendwie tat er ihm leid. Zu oft hatte er ihm den Sieg beim Kampf gegen das Verbrechen weggeschnappt. Andererseits wäre Werpel sicherlich schon längst in die tiefste ostpreußische Provinz versetzt worden, wenn er nicht auch von Gontards Erfolgen profitiert hätte.
Nachdenklich, aber doch bestens gelaunt stieg er dann zu Kußmauls Praxis hinauf. Er freute sich schon darauf, im Wartezimmer in den ausgelegten Journalen zu blättern. Doch als er eingetreten war, erstarrte er. Denn wer dort saß und in der Vossischen Zeitung las, war keine andere als … Flora Morave. Bevor er Henriette kennengelernt hatte, hatte er viele Amouren mit Tänzerinnen und Schauspielerinnen gehabt, und Flora hatte zu seinen Favoritinnen gehört. Und er wäre jetzt auch nicht derart in Panik geraten, wenn zu dieser Zeit nicht gerade eine gewisse Lola Montez, auch eine Tänzerin, das gesamte bayerische Königreich durcheinandergewirbelt hätte. Die Dame hatte eine Affäre mit Ludwig I. und von diesem Verhältnis finanziell bereits erheblich profitiert. Er hoffte inständig, dass Flora ihn nach rund fünfzehn Jahren nicht wiedererkennen würde – oder nicht wiedererkennen wollte. Doch seine Hoffnung war vergebens.
In ihrem Gesicht arbeitete es einen Augenblick, dann lächelte sie, leicht maliziös, wie ihm schien, stand auf und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Oh, que c’est beau de vous voir encore une fois, mon ami une fois tant aimé .”
Gott sei Dank hatte sie das auf Französisch gesagt, und die anderen im Wartezimmer Sitzenden verstanden es offenbar nicht. Nur der Junge, der neben ihr saß, grinste anzüglich.
»Auch für mich ist es ein Vergnügen, Ihnen, Mademoiselle Flora, in diesem Leben noch einmal zu begegnen.« Gontard küsste ihr die Hand.
Sie wies auf den grinsenden Jungen. »Darf ich vorstellen? Mein Sohn Jean-Paul.«
Gontard erschrak, denn er hatte schnell zurückgerechnet. O nein, diese Ähnlichkeit! Aber wenn Jean-Paul wirklich sein Sohn war, warum hatte sich Flora nie gemeldet? Und jetzt? War sie etwa aus Paris zurückgekommen, um ihn, wie die Berliner sagten, auszunehmen wie eine Weihnachtsgans? O Gott, der Skandal, wenn Henriette davon erfuhr! Und all die preußischen Beamten, die ihn wegen seiner liberalen Tendenzen schon lange im Visier hatten! Plötzlich hatte er eine Schreckensvision vor Augen: Flora wurde in Berlin ermordet – und für Werpel wie auch den Polizeipräsidenten von Minutoli gab es da nur einen möglichen Täter, nämlich ihn. Ihm wurde siedend heiß. Was tun? Fliehen oder standhalten?
Wer ihn rettete, war sein Freund, denn gerade in diesem kritischen Augenblick öffnete Kußmaul die Tür zum Sprechzimmer und erfreute die Wartenden mit der Aufforderung: »Der Nächste bitte!«
Da sprang Gontard vor, drängte einen Rentier zur Seite, presste die rechte Hand auf den Unterbauch und stöhnte: »Herr Doktor, mein Blinddarm! Ich sterbe!«
Dr. Kußmaul ahnte natürlich nichts von den Zusammenhängen, begriff aber sofort, dass Gontard in Not war, und ließ ihn an sich vorbei ins Behandlungszimmer schlüpfen, wo er dann auch über alles aufgeklärt wurde.
»Was nun, Fritz?«, fragte Gontard, nachdem er seinem Freund die Geschichte erzählt hatte.
Der Arzt musste nicht lange überlegen. »Ich lasse dich jetzt durch die Hintertür entkommen, und du gehst rauf zu meiner Frau und lässt dir einen Baldriantee aufbrühen.«
Der tat dann auch bald seine Wirkung, aber noch mehr half Gontard der Trost, den ihm Luise Kußmaul zuteilwerden ließ. »Deine Henriette hat ein großes Herz, und sie wird es hinnehmen, dass du noch ein drittes Kind gezeugt haben könntest – es war ja alles vor ihrer Zeit.«
»Aber was ist, wenn Flora Geld von mir haben will, viel Geld, und damit droht, sonst einen Riesenskandal zu entfesseln?«
»Dann hast du uns an deiner Seite, und du kennst selbst eine Menge einflussreicher Leute. Was soll da schon passieren?«
Gontard war verzweifelt. »Falls sie umgebracht wird, werde ich als ihr Mörder verdächtigt werden.«
Luise Kußmaul sah ihn verständnislos an. »Warum sollte sie denn umgebracht werden?«
»Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl …«
Und von diesem Gefühl kam er auch am Abend nicht los, als er mit Kußmaul durch Berlin streifte, um herauszufinden, ob es irgendwo Anzeichen für ein bevorstehendes politisches Erdbeben gab. In Mailand, Palermo, Neapel und Padua hatte es schon Unruhen gegeben. Breitete sich die Revolte von dort nach Norden aus? Wurde München, wo Lola Montez weiter für Aufregung sorgte, als erste deutsche Stadt erfasst? Dies alles fragten sich die Berliner, insbesondere die Intellektuellen, die im Roten Salon des Lesecafés Stehely oder im Lese-Cabinet der Berliner Zeitungs-Halle am Gensdarmen-Markt beisammensaßen und diskutierten. Zeitungen mussten in Preußen von der Zensur genehmigt werden, aber viele ausländische Blätter wurden im Reisegepäck nach Berlin geschmuggelt. Besonders begehrt waren die aus der Schweiz, wo das liberale Bürgertum gerade einen grandiosen Sieg errungen hatte. Wer eine der raren Zeitungen aus Zürich oder Bern ergattert hatte, stellte sich oft auf einen Stuhl und las den anderen laut daraus vor. Diesmal erlebten Gontard und Kußmaul den Tierarzt Friedrich Ludwig Urban in dieser Rolle. Es hieß, Urban sei prädestiniert dafür, das Volk anzuführen, wenn es in Berlin zu einer Revolution kommen sollte.
»Gott«, murmelte Gontard, »einen preußischen Danton oder Robbespierre hätte ich mir anders vorgestellt. Dieser Urban ist doch nur eitel und geltungssüchtig und viel zu romantisch und gefühlsselig, als dass er die Massen mitreißen könnte.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, widersprach Kußmaul ihm.
Wesentlich besser gefiel Gontard später der Kellerhalsredner Heinrich Carrenzien, den sie in der Weinmeisterstraße erlebten. Kellerhalsredner hießen Leute wie er bei den Berlinern, weil sie auf den niedrigen, überdachten Treppen standen, die in die Kellerlokale führten, und von dort aus zu den anwesenden Gästen sprachen.
»Ihr Männer alle«, rief er mit Stentorstimme, »erhebt euch, um für das zu kämpfen, was für euch am wichtigsten ist: das Recht auf Arbeit! Fordert die Einrichtung von Nationalwerkstätten, wo man euch mit gemeinnützigen Arbeiten beschäftigt und gut entlohnt. Das sichert euer Überleben und den allgemeinen Wohlstand.«
»Dann soll der Carrenzien mal den Karren ziehn«, reimte Kußmaul. »Und zwar aus dem Dreck.«
Sie hätten ihm gern noch länger zugehört, doch hinter ihnen gab es einen kleinen Auflauf. Zwei Männer waren in eine heftige Schlägerei geraten. Offenbar ging es um ein auffallend schönes Mädchen. Wie Gontard und Kußmaul den Zurufen der Umstehenden entnehmen konnten, handelte es sich bei den Herren um den Arbeitsmann Ferdinand Dünnebier und den Tischlergesellen Gottlieb Letschinski und bei der Dame um eine gewisse Auguste Gärtner, offenbar eine Dienstmagd. Jeder drohte dem anderen, ihn auf der Stelle umzubringen.
»Dir