Das Geheimnis der Väter. Daniel Eichenauer
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Valentin Faber, 1985
Valentin Faber hatte sich entschieden. Endlich. Viel zu lange hatte er ein Leben geführt, in das er einfach hineingeraten war und über das er irgendwann die Kontrolle verloren hatte. Damit sollte nun Schluss sein, alter Ballast musste über Bord geworfen und das Schiff gesäubert werden. Auch wenn man in seinem Alter eine Lebensentscheidung nicht mehr leichtfertig traf, so musste er doch einsehen, dass er sich davor gedrückt hatte. Er war mit den Jahren feige geworden. Kaum jemand wusste von dem Teil seines Lebens, unter den er nun, im Herbst des Jahres 1985, einen Schlussstrich ziehen wollte. Er nahm all seinen Mut zusammen und griff zum Telefon.
«Ich will mit dir reden», sagte er, als jemand abgehoben hatte.
Als er den Hörer zurück auf die Gabel legte, atmete er auf. Er hatte lange genug sein Leben einfach so geschehen lassen, es wie ein Außenstehender betrachtet, nun wollte er es wieder selbst in die Hand nehmen. Sein Gesprächspartner würde nicht darüber erfreut sein.
Gegen 18 Uhr erhielt er einen Anruf – Treffen erst um 22 Uhr. Die Verschiebung kam ihm nicht ungelegen. Sie ließ ihm Zeit für ein Zwiegespräch mit dem Weingeist. Der Gedanke, dass er auf das Auto angewiesen war, kam ihm nicht. Die Zeit war sein Gegner, nicht das Gesetz. Gegen 21.30 Uhr trank er den letzten Brandy, zog den Mantel an, verabschiedete sich von seiner Frau und rannte durch die Dunkelheit zu seinem Auto.
Es regnete in Strömen, Sturzbäche rannen die Bordsteine hinunter. Hektisch quietschten die Scheibenwischer seines alten VWs. Der Sturm peitschte die Blätter und klatschte sie gegen die Windschutzscheibe. Entgegen seiner Gewohnheit sang Valentin nervös die Lieder aus dem Radio mit. Der Brandy zeigte seine Wirkung. Valentin Faber war aufgekratzt. Er bog in die stockfinstere Straße ein, die durch den Wald führte. Nur undeutlich konnte er vor sich den kurvigen Straßenverlauf im Scheinwerferlicht erkennen. Er musste die Augen zusammenkneifen, um überhaupt noch etwas zu sehen.
Plötzlich blendete ihn gleißendes Licht. Noch nie in seinem Leben hatte er in ein solch grelles Licht geblickt. Unwillkürlich dachte er an das Fernlicht eines Autos, doch dafür war es viel zu intensiv. Er konnte die Straße nicht mehr sehen. Seine Augen brannten. Kurz schloss er sie, doch die Lichtreflexe ließen nicht nach. Panisch betätigte er die Lichthupe, aber nichts geschah. Das Licht schien auf ihn zuzurasen. Eben noch nahm er die Umrisse eines Menschen wahr. Geblendet schlug er die Hände vors Gesicht und schrie. Dann spürte er nichts mehr.
Jakob Chrumm
Alles begann am Abend von Kathis dreißigstem Geburtstag. Und das, obwohl Kathi in meinem Leben nie zuvor irgendeine Bedeutung gehabt hatte. Ich könnte sagen, dass ich Kathi länger kenne, als ich sie nicht kenne. Schließlich kenne ich sie, seitdem ich denken kann.
Gemeinsam mit Neele van Lenk und Tom Tauber waren wir in einer Straße eines kleinen, verschlafenen Außenpostens von West-Berlin an der südwestlichen Grenze zu Potsdam aufgewachsen. Er war so klein, dass man gesagt hatte, man fahre «in die Stadt», selbst wenn man nur eine Fahrt in das kleine, grüne Zehlendorf unternehmen wollte. Der Sage nach hatte Hans Kohlhase hier seinen Schatz unter einer Brücke versteckt – und das hatte der Ortschaft ihren Namen eingebracht: Kohlhasenbrück. Die alte Brücke gab es jedoch schon lange nicht mehr, und auch der Fluss, über den sie geführt hatte, die Bäke, war verschwunden und hatte dem Teltowkanal Platz gemacht. Das ruhige, kleine Dorf bestand nur aus ein paar Straßen, an denen eine Handvoll alter Villen stand. Um den Stölpchensee und den Rest der Stadt zu erreichen, musste man den Teltowkanal überqueren und die Straße durch den Wald benutzen.
Wenn die Erben der Bewohner Geld brauchten und ihre Gärten groß genug waren, teilten sie ihre Grundstücke, und einige neue Häuser kamen hinzu. Der Dorfladen war aus Altersgründen bereits seit den Siebzigern geschlossen, nur noch die Autobücherei kam einmal in der Woche vorbei. Unsere Straße endete an der Mauer, und hinter dem anderen Ende des Dorfes, markiert durch den Teltowkanal, erstreckte sich der Wald. Oft hatten wir in diesem Wald gespielt, denn dort lag eine seit Jahrzehnten stillgelegte S-Bahn-Strecke in tiefem Dornröschenschlaf. Seit dem Mauerbau rollten auf ihr keine Züge mehr. Vom ehemaligen Betrieb zeugten nur noch die verrosteten, von Rankgewächsen überwucherten Schienen und Signalanlagen, die geduldig und pflichtbewusst auf ihren nächsten Einsatz zu warten schienen und an der Mauer endeten. Als Kinder waren wir oft auf die Signale geklettert, hatten die Stromschienen erforscht und uns ausgemalt, wie plötzlich ein Zug krachend durch Sträucher und Bäume pflügen und uns zur Seite scheuchen würde.
Obwohl ich mit Kathi, Tom und den anderen Kindern aus unserem kleinen Dorf auf diesem verwunschenen Abenteuerspielplatz so viele Stunden verbracht hatte, war es mir in all den Jahren nicht gelungen, eine tiefere Verbindung zu Kathi aufzubauen. Ich schäme mich fast, es zu sagen, aber das war wohl auch der Grund, weshalb ich an diesem Abend mit dem Anziehen trödelte.
«Langsam musst du dich fertig machen!», sagte meine Freundin Nina streng.
«Jetzt schon?», quengelte ich.
«Jakob, es sind deine Freunde! Mir ist es egal, wann du dort ankommst, aber ich dachte, du magst sie.»
«Das schon, aber …»
Nina sah mich fragend an.
«… aber man darf in Anwesenheit von Kathis Lehrerfreundinnen bestimmt nicht lachen», maulte ich.
«Du bist aber auch ein alter Stinkstiefel!» Sie zwickte mich in die Wange. «Wenn du so weitermachst, lebst du bald ganz alleine in einem alten Haus im Wald und hast eine krumme Nase.»
Im Gegensatz zu Kathi spielte ihr Freund Tom Tauber seit jeher eine große Rolle in meinem Leben. Und normalerweise hätte ich die Party, die sie in ihrem gemeinsamen neuen Haus gaben, nur aus Pflichtbewusstsein ihm gegenüber besucht. Doch diesmal war es Kathi gelungen, meine Neugier zu wecken.
Vor einigen Wochen hatten wir am Pool gesessen, den Tom mit Unterstützung seiner Freunde in seinem Garten gebaut hatte. Ich war nie ein Freund körperlicher Arbeit gewesen, aber Baggerfahren machte Spaß, und jetzt, im Sommer, hatten wir die Früchte unserer Arbeit ernten können. Beim Biertrinken war uns die Idee gekommen, die Mädchen von damals, Neele und ihre Freundinnen, ausfindig zu machen und zu einer Poolparty einzuladen. Doch leider hatte auch diese Idee das Schicksal der meisten Einfälle erlitten, die abends geboren werden: Sie war schon im Morgengrauen verstorben. Es war dann aber Kathi, die mich einige Tage später plötzlich fragte, ob ich Pläne für übernächsten Samstag habe.
«Gibt’s was zu feiern?», hatte ich mich erkundigt.
«Ja», hatte sie geantwortet, «meinen Geburtstag. Jährlich wiederkehrend, ganz unvorhersehbar! Es wird sogar eine Überraschung geben.»
Ich gestehe, dass ich den Köder, den Kathi damit ausgelegt hatte, anfangs misstrauisch beäugte. Daran hatte sich auch nichts geändert, bis ich nun mein Auto in ihrer Straße abstellte und laute Musik und Gelächter hörte. Der Lärm kommt bestimmt nicht von Kathis Feier, dachte ich, als ich ausstieg. Wenn es mir auf ihrem Geburtstag zu langweilig wird, gehe ich später einfach auf die andere Party.
Doch als ich eintrat, traute ich meinen Augen kaum: Die Quelle von Musik, Lachen und Gekreische lag tatsächlich in diesem Haus, dem Haus von Tom und Kathi. Das hatte es noch nie zuvor gegeben. Tom und Kathi waren keine lauten und impulsiven Menschen. Sie waren eher das Gegenteil: beständig und ruhig. Experimente waren nicht ihre Sache, selbst in Beziehungssachen nicht. Sie waren schon seit ihrem vierzehnten Lebensjahr ein Paar und machten trotzdem immer noch einen glücklichen Eindruck. Nach meiner Erfahrung pflegen sich Menschen, die in jungen Jahren zusammenkommen,