Das Geheimnis der Väter. Daniel Eichenauer
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Jakob Chrumm, 1981
«Am nächsten Wochenende fahren wir nach Braunschweig», verkündete meine Mutter eines Tages und bereitete damit den Boden für das Unheil, das uns Jahre später heimsuchen sollte.
Am nächsten Wochenende fahren wir nach Braunschweig. Meine Großmutter sollte uns begleiten. Ich traute meinen Ohren nicht. Braunschweig? Ich wusste zwar, dass Onkel Leberecht – als Bruder meines Großvaters war er eigentlich nur mein Nennonkel – Gutsbesitzer in der Nähe von Braunschweig war, allerdings hatte sich die Kontaktpflege bisher auf eine Postkarte zu Weihnachten beschränkt. Das hatte seine Gründe. Onkel Leberecht legte größten Wert darauf, nicht als ein Bauer auf einem schnöden Hof abgestempelt zu werden. Er war etwas anderes, etwas Besseres. Eben Gutsbesitzer. Die Schöpfung hatte ihn nicht gerade mit Frohsinn verwöhnt, das Schicksal hatte ihm seine Gattin gesandt, und das Leben hatte den Rest erledigt. Als einziger Trost war ihm sein gefestigter Klassenstandpunkt geblieben, der ihn auf seinem Gut ein strenges Regiment führen ließ. Selbst mit zunehmendem Alter, bereits 82-mal hatte er Geburtstag gefeiert, war er nicht milder geworden. Das Verhältnis zu seinen beiden Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, war seit deren Kindheit unverändert schlecht geblieben. Doch an ihm lag das natürlich nicht! Diese undankbare, missratene Brut hatte es doch nur auf das Erbe abgesehen!
«Man kann sich seine Familie eben nicht aussuchen», schnaufte meine Mutter, während sie die Koffer ins Auto lud. Sie schlug die Heckklappe zu und schaute gequält. Meine Großmutter lächelte zaghaft.
Meine Freude auf die erste Reise, die mich aus Berlin hinausführen sollte, erlitt am Grenzübergang Dreilinden einen herben Rückschlag. Wir gerieten in einen endlosen Stau, und das graue Dach, das über den albernen Kontrollhäuschen des Grenzübergangs auf zahlreiche Metallstreben gespannt war, näherte sich nur unerträglich langsam. Meine Mutter schaltete nach allen paar Metern, die wir vorgerückt waren, den Motor aus. Gelangweilt beobachtete ich, wie einige der Fahrer neben uns ausgestiegen waren und ihre Autos schoben – Rentnerautomobile, an deren Heckscheibe unzählige Aufkleber von klingenden Orten wie Cochem oder Würselen prangten, und andere mit Atomkraft-nein-danke-Aufklebern.
Meine Mutter schaute abfällig zu ihnen hinüber. «Wer sein Auto liebt, der schiebt!», höhnte sie und startete wieder den Motor, um ein Stückchen vorzurücken.
Grenzer patrouillierten durch die Autoreihen vor den Häuschen und fragten jeden Fahrer in breitem Sächsisch: «Haben Sie Waffen, Funkgeräte?»
Nach einigen Stunden kamen wir endlich am ersten der mickrigen Kontrollhäuschen an. Meine Mutter ermahnte mich, dass dieses Hüttchen und ihre Bewohner ernst genommen werden wollten – auch wenn es schwerfalle. Der Wärter in Häuschen Nummer eins nahm unsere Pässe entgegen, schaute uns scharf an, legte die Dokumente beiseite und gebot uns weiterzufahren.
«Wo sind denn unsere Pässe hin?», wunderte ich mich.
«Die fahren jetzt auf einem Rollband in das nächste Häuschen, und da bekommen wir sie wieder», erklärte meine Mutter.
Die graue «Pass-Rollbahn» machte seltsame Geräusche. Das Dach über dem Rollband wirkte noch alberner als der Rest der Maschinerie. Der Wärter in Häuschen Nummer zwei gab uns schweigend die Pässe wieder, schaute sich aber zuvor unsere Namen und Gesichter noch einmal genau an.
«Und dafür mussten wir jetzt so lange warten?», fragte ich laut.
«Pst!», zischte meine Mutter.
Nachdem uns die Sphinx hatte passieren lassen, durften wir endlich die ersehnte Transitautobahn befahren. Das Tacktack-tacktack-tacktack der Autoreifen auf den Betonplatten machte mich zwar schläfrig, aber meine Neugier siegte. In unregelmäßigen Abständen standen auf den Parkplätzen kleine, raupenartige Baracken. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen.
«Das sind Intershops», erklärte meine Mutter. «Da kann man zollfrei Zigaretten, Alkohol und Ähnliches kaufen.»
«Bäh!», rief ich aus.
«Die haben auch andere Sachen.»
Mein Misstrauen aber war geweckt. Deutlich konnte ich mich an eine Szene erinnern, die sich in der Weihnachtszeit zugetragen hatte. Damals hatte ich meiner Großmutter einen Besuch abgestattet. Als ich ins Haus getreten war, hatte ich sie in der Küche hantieren gehört und zunächst durch den Türspalt gespäht. Ich traute meinen Augen kaum: Auf dem Holztisch in ihrer gemütlichen, alten Küche stand ein großes Paket, um das herum Schokoladentafeln, Päckchen mit Kaugummis und Gummibärchen und anderes, was ein gutes Weihnachtsgeschenk ausmachte, lagen. Strumpfhosen und Deo irritierten mich aber. Je länger ich nachdachte, desto seltsamer kam mir das alles vor. Meine Großmutter neigte üblicherweise nicht zu Übertreibungen, das hier aber war der Inbegriff des Überflusses. Was hatte das nur zu bedeuten? Offenbar bereitete sie eine Weihnachtsüberraschung für mich vor. Ich sollte ihr Zeit geben, die Sachen vor mir verstecken zu können. Vorsichtig schlich ich von der Küchentür zurück. Der alte Boden knarrte.
«Jakob? Bist du schon da? Wie schön! Ich bin in der Küche. Komm doch zu mir!»
Ich stutzte. Zaghaft öffnete ich die Tür. Als ich eintrat, ging meine Großmutter um den Tisch herum und sah konzentriert auf einen Zettel, den sie in der Rechten hielt. Die Linke hatte sie in ihre Hüfte gestemmt. Ihr weißes Haar war zusammengebunden. Sie murmelte etwas vor sich hin. Als sie mich sah, ließ sie den Zettel sinken, lachte und hob mich hoch.
Ich schaute auf den Tisch und heuchelte Überraschung. «Oh, so viel Schokolade, wie toll!» Ich befreite mich aus ihren Armen und wollte die Sachen genauer inspizieren.
«Finger weg, das ist nicht für dich!»
Wie bitte? Meine Traumblase platzte. Ich war entsetzt. Wie konnte sie nur so herzlos sein?
«Das ist für deinen Onkel Ortwin und seine Familie in Chemnitz.»
Genau genommen war auch Onkel Ortwin gar nicht mein Onkel, sondern einer ihrer Brüder. Ihre eigensinnige Wortwahl betraf nicht nur ihn, sondern auch seinen Wohnort: Den Namen «Karl-Marx-Stadt» durfte niemand von uns in den Mund nehmen.
«Aber … warum bekommt er all die schönen Sachen und ich gar nichts?», fragte ich enttäuscht. «Die kann er sich doch selbst kaufen wie alle anderen Erwachsenen auch!» Wahrscheinlich hatte ich meine Großmutter nur in einem ungünstigen Moment erwischt, und sie versuchte nun mit Ausreden, ihre Überraschung für Weihnachten zu retten, überlegte ich.
Doch sie beugte sich zu mir herunter und sagte im verschwörerischen Tonfall: «Du weißt doch, dass Onkel Ortwin drüben wohnt.»
«Und deswegen bekommt er alles und ich gar nichts? Das ist gemein!»
«Red keinen Unsinn!», wies sie mich zurecht und fügte streng hinzu: «Die Menschen da drüben bekommen gar nichts!» Energisch schnaufend legte sie eine Packung Kaffee ins Paket. «Deswegen schicken wir ihm ja diese Sachen. Onkel Ortwin kann nicht einfach in einen Laden gehen und sich Dinge kaufen, die er gerne hätte. Dinge wie diese bekommt man drüben eben nicht so leicht.»