Das Geheimnis der Väter. Daniel Eichenauer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Das Geheimnis der Väter - Daniel Eichenauer страница 4
Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, sich das genaueste Bild stets von denjenigen zu machen, die man am wenigsten kennt. Und so hatte man natürlich auch eine genaue Vorstellung von denen, die dort drüben in den Villen der Filmstars wohnten. Selbst wenn es möglich gewesen wäre – mit solchen Menschen wollte hier keiner Kontakt haben.
Im Grenzstreifen direkt hinter der Mauer befand sich ein Wachturm, eines dieser achteckigen Betonmonster mit Scheinwerfern auf dem Dach, das rund um die Uhr besetzt war. Die große Kanzel saß auf einer dünnen Säule, sodass das Monster unförmig und storchbeinig wirkte. Von ihm ging eine Ruhe aus, die nicht entspannend und erholsam war, sondern höchst bedrohlich wirkte. Da das Gefühl des Bedrohtseins bekanntlich den Genuss stört, entschied man, das Monster zu ignorieren und sich erst dann mit den möglichen Gefahren, die von ihm ausgingen, auseinanderzusetzen, wenn sie eintreten sollten.
Einige Monate nach der beklagenswerten Ehefrau wurde auch die schreckliche Laube auf unserem neuen Grundstück zu Grabe getragen, denn an ihrer Stelle sollte ein Pool errichtet werden. Berge von Müll, darunter auch Sachen, die in den Sondermüll gehörten, türmten sich in dem Bau, verpackt in Säcken, offenen Kartons und allen möglichen anderen Behältnissen.
«Wir werfen das ganze Zeug einfach über die Mauer.» Mein Stiefvater sah meine Mutter und mich an und wartete auf Beifall.
Schweigen.
«Dann hat die Mauer wenigstens einen Sinn», legte er nach.
«Georg, das können wir nicht machen!» Meine Mutter kicherte hinter vorgehaltener Hand.
«Warum denn nicht? Probieren wir’s aus!» Er genoss sichtlich, dass wir seine Unerschrockenheit bewunderten.
Auf dem Gesicht meiner Mutter zeigte sich ein scheeles Teenagergrinsen.
«Aber wenn die uns vom Turm aus erschießen?», gab ich zu bedenken.
«Ach was, die können gar nicht zielen!», beruhigte mich mein Vater.
Das überzeugte mich nicht. «Dann machen die uns anderen Ärger!»
«Was sollen die denn tun? Von ihrem Turm runterkrabbeln, über die Mauer springen und uns verprügeln?»
«Sie könnten die Polizei holen, und wir müssen Strafe zahlen», erwiderte ich ängstlich.
«Das will ich sehen, dass der Grenzer von drüben bei der West-Berliner Polizei anruft und sich darüber beschwert, dass die DDR von umherfliegendem Müll angegriffen wird.» Er lachte aus vollem Halse. «Ach, das wäre mir der Spaß wert!»
«Und wenn ein Müllsack auf eine der Minen fällt und die hochgeht?» Meiner Meinung nach stellte sich mein Vater die Sache zu einfach vor.
«Dann knallt es, und es ist eine Mine weniger. Vielleicht überlegen die sich da drüben dann, ob es richtig ist, das Gelände zu verminen.»
Schon flog der erste Sack über die Mauer. Ich verfolgte seine Flugbahn. Um Haaresbreite hätte er es nicht geschafft. Ich hielt den Atem an und die Ohren zu. Jeden Moment würde es knallen. Doch ich hörte nur einen dumpfen Aufschlag. Keine Explosion, kein Geschrei. Diese Ruhe war verdächtig. Da der Mensch jedoch nur lernt, wenn die Strafe auf dem Fuße folgt, fasste ich Mut. «Ich will auch einen werfen!»
«Na gut, aber einen leichten. Oder lieber erst mal eines von diesen kleinen Brettern zur Probe. Und mit viel Schwung, sonst landet es noch auf der Mauer, und wir müssen es wieder herunterholen. Das wollen wir doch nicht, oder? Peinlich wäre das! Also mit Anlauf, ungefähr so …»
Mein Vater setzte zu einer eigenartigen Demonstration an, deren Ausführung verriet, dass er schon seit Längerem keinen Sport mehr trieb. Da ich ahnte, was er meinte, wartete ich das Ende seiner Vorführung gar nicht erst ab, sondern nahm ein langes, sperriges, aber sehr leichtes Brett und warf es nach einigem Anlauf in Richtung Grenze. Im hohen Bogen flog es über die Mauer, und nach einer Weile hörten wir einen dumpfen Widerhall aus dem Reich des Schweigens.
«Yippie, viel weiter als du, Papa!», johlte ich.
Jakob Chrumm
Neele lachte so herzlich, nachdem ich diese Geschichte erzählt hatte, dass sie sogar ihr Grübchen vergaß. «Ich war wirklich beeindruckt: ein Pool – cool!»
Wir lachten und stießen auf den Pool an.
Während wir über die alten Zeiten geplaudert hatten, hatte die Party mächtig Fahrt aufgenommen. Von drinnen sahen wir, wie sich einige Männer bis auf die Unterhose auszogen und unter lautem Gegröle ins Wasser sprangen. Die sündigen drei standen am Rand des Schwimmbeckens und sahen dem Treiben kreischend zu. Jemand fand einen riesigen aufblasbaren Wal und warf ihn ins Becken. Die Dreierbande trompetete. Da hatte endlich jemand genug von der Koketterie, schnappte sich kurzerhand die Blondine und warf sie vollbekleidet ins Wasser. Die übrigen zwei wieherten umso lauter, wodurch sich zwei weitere Männer ermutigt fühlten, sie ebenfalls ins Becken zu schubsen.
Bei diesem Anblick erzählte Neele, wie froh sie sei, dem Kleinstadtleben entflohen zu sein. Sie hatte beschlossen, ihre Arbeit als Sekretärin im Westfälischen aufzugeben und zurück nach Berlin zu ziehen. Durch Zufall hatte Kathi sie genau zu diesem Zeitpunkt in einem Internetportal wiedergefunden.
«Seit zwei Wochen bin ich nun hier, und mein Arbeitsplatz – ich versuch’s erst mal wieder als Sekretärin – ist schon vollständig eingerichtet, was man von meiner Wohnung nicht gerade behaupten kann.»
Ich konnte es nicht fassen. «Seit zwei Wochen? Und da wartest du bis jetzt, um mich …», ich stockte, «… um uns alle wiederzutreffen?»
Neele kaute auf ihrem Strohhalm herum und sah mich an. Die Wasserfreunde stiegen aus dem Pool und watschelten pitschnass zu uns ins Haus. Blondi stand mit einem der Männer tropfend vor der Toilette an, was die anderen aus der Schwimmgruppe zu zweideutigen Bemerkungen anstachelte.
Ich hätte mich noch stundenlang mit Neele unterhalten können, doch sie schaute nachdenklich aus dem Fenster. Das erste zarte Blau des Morgens zeichnete sich bereits am Himmel ab. Ein neuer Tag brach an.
«Es war ein wunderschöner Abend. Danke!»
«Er ist noch nicht zu Ende», erwiderte ich.
Sie legte ihre Hand auf meine Schulter. «Doch.» Sie sah mich nicht an. «Leider», fügte sie hinzu, bevor sie sich abwandte.
Ich wollte ihr folgen, aber Tom kam mit einer Schnapsflasche