Kempinski erobert Berlin. Horst Bosetzky
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»Ach, Bres is lau. Leben lässt sich’s nur in Berlin.« Er hätte fast seine Probe verpasst, so sehr geriet er ins Schwärmen. Ein Assistent holte ihn schließlich.
»Schade«, sagte Berthold Kempinski. »Wann kann man Sie denn auf der Bühne erleben?«
»Nächsten Monat ist Premiere.« Sprotte schielte auf die Weinflaschen. »Wir können ja tauschen: Eine Flasche Wein gegen eine Theaterkarte.«
»Zwei Flaschen gegen zwei Karten.«
»Gut. Machen wir.«
Die Jüdische Gemeinde zu Breslau wuchs von Jahr zu Jahr. Hatte man 1850 an die 7200 Bürger mosaischen Glaubens gezählt, so sollten es 1900 schon mehr als 19 000 sein. Und so erwarb die Jüdische Gemeinde im Südosten der Schweidnitzer Vorstadt ein 4,6 Hektar großes Areal, das Raum für zwanzig Gräberfelder bot. Im November 1856 konnte dort das erste Begräbnis stattfinden.
Moritz und Berthold Kempinski gingen über diesen »Ort des Lebens« und suchten das Grab ihres Kunden Salomon Auerbach, dessen Sarg sich letztes Jahr in die Erde gesenkt hatte.
»Der Ewige gab, der Ewige nahm; es sei der Name des Ewigen gepriesen!« Mit der ihm eigenen Ernsthaftigkeit zitierte Moritz Kempinski Hiob 1, Vers 21.
Berthold Kempinski lachte und dachte an die Kria. »Nicht so feierlich, sonst zerreiße ich mir noch meine Kleider!« Für die nahen Verwandten des Verstorbenen war das fest vorgeschrieben. Damit sollte der Schmerz nach außen hin sichtbar gemacht werden. Der Riss in den Gewändern symbolisierte den Riss im Herzen.
Moritz Kempinski simulierte weiterhin den Gang von der Trauerfeier zum Grabe, der mehrmals unterbrochen wurde, um die Mühsal dieses Weges anzuzeigen, und rezitierte den Anfang des 91. Psalms: »Wer in dem Schutze des Höchsten sitzet, der ruhet im Schatten des Allmächtigen. Ich spreche zum Ewigen: Meine Zuflucht und meine Burg, mein Gott, dem ich vertraue. Denn er wird dich retten von der Schlinge des Vogelstellers.«
»Das tut ja nun in Breslau weniger not«, kam Berthold Kempinskis Zwischenruf.
Der Bruder sah ihn tadelnd an. »Treib aus den Spötter!« Das war aus den Sprüchen Salomos, und weil er viele von denen auswendig kannte, fügte er noch hinzu: »Mancher kommt zu großem Unglück durch sein eigen Maul.«
»Du, ich bin da die große Ausnahme: Mein Maul ist mein größtes Kapital und Glück. Ich unterhalte die Leute damit, ich sorge dafür, dass sie sich amüsieren – und sie danken es mir. So sind wir alle glücklich.« Berthold Kempinski hatte es in all den Jahren in Breslau gelernt, den Aggressionen des Bruders mit einem entwaffnenden Humor zu begegnen.
Der Bruder sah ihn böse an. »Ich möchte dir heute nicht bei uns am Abendbrottisch gegenübersitzen.«
»Da brauchst du nichts zu befürchten, ich gehe heute Abend ins Theater.«
Helene Hess kam aus einfachen Verhältnissen, ihr Vater war Rangierer bei der Königlich Sächsischen Eisenbahn in Leipzig und ihre Mutter Beiköchin in einem Gasthaus in der Nähe des Bayerischen Bahnhofs, und wie alle Mädchen ihres Standes träumte sie davon, einmal in die höheren Kreise einzuheiraten. Und ein Weinhändler mit einem Geschäft am Ring zählte ganz sicher dazu.
Vor ihr auf der Waschkommode stand der Blumenstrauß, den ihr Berthold Kempinski geschickt hatte. Zusammen mit einem Billett, das zwar kein richtiger Liebesbrief war, aber immerhin eine gewisse Anbetung erkennen ließ. Ins Theater lud er sie ein, und Theater war etwas für Herrschaften. Sein genaues Alter kannte sie noch nicht, aber sie schätzte, dass er mehr als zehn Jahre vor ihr auf die Welt gekommen war. Es war nichts Außergewöhnliches, dass ein Mann so viel älter war als die Frau, die er heiratete, es war sogar gut so, da hatte er sich schon die Hörner abgestoßen. Ein Beau war Berthold Kempinski nicht, aber durchaus ansehnlich und vor allem ein lustiger Kerl. Und in ihm steckte viel Energie, das hatte sie bei ihrer kurzen Begegnung zu Silvester instinktiv gespürt. Wenn er nun wirklich ernsthafte Absichten hatte … Sie war doch erst sechzehn und kannte die Welt nur aus Kolportageromanen. Mit wem sollte sie reden? In Breslau hatte sie noch keine beste Freundin gefunden.
Ich gehe mit ihm ins Theater, ich gehe nicht. Ich gehe, ich gehe nicht. Sie konnte sich nicht entscheiden. Schließlich nahm sie einen Würfel. Eins, zwei oder drei bedeutet: Ich gehe nicht. Vier, fünf oder sechs heißt: Ich gehe. Der Würfel rollte über die Marmorplatte.
Kommissarius Wilhelm Owieczek schlenderte über den Markt von Krotoschin. Er war gerufen worden, weil man an der Straße nach Ostrowo einen ausgeweideten jungen Mann gefunden hatte. Dem Leichnam hatten Herz, Leber und Teile aus dem rechten Oberschenkel gefehlt. Das war die Handschrift des Mannes, den er nun schon seit über fünfzehn Jahren suchte. Es war mit Sicherheit einer, der das Fleisch seiner Opfer kochte und konservierte. Da, wo es Leichenfunde gegeben hatte und junge Männer als verschwunden gemeldet waren, hatte er bunte Nadeln in die Karte der Provinz Posen gesteckt, und sehr schnell war ihm klargeworden, dass der Täter von Berufs wegen viel unterwegs sein musste. Außerdem konnte er davon ausgehen, dass der Mann alleinstehend war, denn vor einer Ehefrau oder einer Haushälterin hätte er sein Treiben nicht über so viele Jahre hinweg verheimlichen können. Im langen Winter hatte er sich nun mit mehreren Gehilfen darangemacht, die Melderegister aller Gemeinden zwischen der Stadt Posen und der schlesischen Grenze nach Männern abzusuchen, die alleinstehend waren und ihr Geld als Handlungsreisende, fliegende Händler, Schauspieler, Musiker, Akrobaten, Trödler, Lumpenmänner, Saisonarbeiter oder Lokomotivführer verdienten. Hunderte von Namen waren zusammengekommen, und Owieczeks Vorgesetzter hatte seine Arbeit als verlorene Liebesmüh bezeichnet.
Von den vielen Namen hatten sich nur wenige in sein Gedächtnis eingeprägt, und einer von denen war Krojanke. Warum, das wusste er nicht. Wahrscheinlich, weil seine Mutter eine geborene Jahnke war.
Und nun hörte er den Namen Krojanke am Stand eines Mannes, der Scheren, Messer, Sägen, Feilen, Äxte und Beile verkaufte und gerade mit einem Förster verhandelte.
»Die nehm ich, Krojanke«, sagte der Forstbeamte und prüfte die scharf geschliffene Klinge noch einmal mit Zeigefinger und Daumen.
»Da können Se Papier mit schneiden.« Krojanke ließ sich die Axt noch einmal geben, um es zu demonstrieren.
Dabei entdeckte Owieczek einen rötlichen Fleck auf dem Stiel, und zwar da, wo sich ein kleiner Ratscher in der Lackierung befand. Dieser Fleck war ganz einfach zu erklären, denn Krojanke hatte Stunden zuvor Rote Beete gegessen, und dabei war ein wenig Saft auf seine Auslagen gekleckert. Owieczek aber hatte eine ganz andere Assoziation: Blut! Es schoss ihm durch den Kopf, wie ein Reflex, und gleichzeitig fiel ihm wieder ein, dass damals in Raschkow der Regierungsreferendarius Sigismund von Schecken mit einer Axt erschlagen worden war. Vielleicht hatte er sterben müssen, weil er den Kannibalen schon damals entdeckt hatte? Ach, alles Hirngespinste!
Dennoch setzte sich Owieczek am Abend hin und schrieb einen Brief an seine Kollegen in der Stadt Posen. Sie mögen doch bitte in Erfahrung bringen, wo dieser Krojanke ansässig war, und sich einmal in dessen Wohnung umsehen.
Moritz Kempinski war wenig erbaut davon, dass sich sein Bruder mit Fräulein Hess verloben wollte.
»Ein Dienstmädchen, Berthold, ich kann es nicht fassen! Wollen wir mit unserer Firma expandieren, brauchen wir dringend neues Kapital. Und ich habe so sehr mit der Mitgift deiner Braut gerechnet.«
»Es ist Liebe – und gegen diese Himmelsmacht kann keiner an.«
»Das