Der König vom Feuerland. Horst Bosetzky
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Читать онлайн книгу Der König vom Feuerland - Horst Bosetzky страница 16
Borsig schloss die Augen und wünschte sich auf den Dachstuhl zurück, an dem Meister Kiesewetter gerade baute. Unten stand Marie und winkte zu ihm hinauf. In der Ferne zog sich das silberne Band der Oder Richtung Ostsee.
»Der eigentliche Unterricht beginnt nachmittags zwei Uhr.« Damit schritt der Lehrer würdig zur Tür.
Die Zöglinge traten auf die Klosterstraße hinaus und genossen die Herbstsonne, die in diesem Jahr ganz besonders mild war. Es war Zufall, dass Borsig neben Schäschke geriet.
»Wenn der Lehrer das mit der Sträflingskleidung gehört hätte, wärst du gleich geflogen«, sagte Borsig.
Schäschke zuckte mit den Schultern. »Das hätte dieser Sesselfurzer nicht gewagt. Mein Vater kennt zu viele hochgestellte Persönlichkeiten.«
Der alte Schäschke war Juwelier mit einem Ladenlokal in der Nähe des Berliner Schlosses, und Schäschke junior hatte Goldschmied gelernt.
Am Nachmittag erschien Beuth persönlich im Klassenzimmer, um seine Eleven zu begrüßen. Borsig war überrascht von seiner äußeren Gestalt, denn einen Lützow’schen Offizier hätte er sich kraftvoller vorgestellt, vor allem die dünne, helle Stimme des Geheimen Oberfinanzrathes irritierte ihn. Sein altväterlich weit geschnittener blauer Überrock war schon ziemlich abgetragen, da war wohl Friedrich der Große in seinen letzten Tagen in Sanssouci das Vorbild. Hochgewachsen war er und hager, hielt sich aber trotz seiner 42 Jahre noch immer militärisch straff. Den kleinen Kopf bewegte er schnell hin und her, und seine langen Haare wehten dabei durch die Luft wie die eines Kunstmalers oder Pianisten. Mit seinem Halstuch wirkte er auf August Borsig auch eher wie ein Künstler und nicht wie ein Beamter, der für Handel und Gewerbe zuständig war. Ein guter Redner war er, jedes seiner Worte war Aufruf und Mahnung. Er fing die Zöglinge damit ein, dass er von seiner Englandreise erzählte, von der er vor wenigen Tagen zurückgekehrt war.
»Deren hochstehendes Gewerbe hat mich über alle Maßen beeindruckt. Aber was die Engländer können, das können wir auch, wenn wir mit der ganzen Kraft des alten harten Preußentums in die Zeit der Maschinen hinübergehen. Der Fleiß der Gewerbe und der Wille der Handwerker, sich in die Pflicht nehmen zu lassen und Besseres und Vollkommenes zu leisten, sind unseres Glückes Unterpfand. Sich regen bringt Segen. Für jeden Einzelnen wie für unser ganzes Land. Unsere Zukunft wird eine glänzende sein, wenn Sie, meine Herren, in Ihrem Gewerbe glänzen.«
Seine klugen Augen ruhten sekundenlang auf jedem seiner Zöglinge, und Borsig fühlte sich von diesem Blick durchbohrt und bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele durchschaut. Schäschke sollte später sagen, Beuth habe jeden derart magisch und intensiv angeblickt, um in ihm ein inneres Feuer zu entzünden.
Doch in August Borsig war dieses Feuer nicht zu entfachen. Im Gespräch, das Beuth mit jedem der Neuen führte, gab er an, Baumeister werden zu wollen und sein Vorbild sei Schinkel. Doch das stimmte nicht. Er war kein Künstler.
Der Herbst ging in den Winter über, die Tage in der Klosterstraße wurden immer trüber, und Borsig litt unter allem. Morgens musste er, wie die Witwe Järschersky es ausdrückte, schon vor dem Wachwerden aufstehen, und oft hetzte er ohne Frühstück durch die dunklen Gassen zum Gewerbehaus. Am schlimmsten war es, wenn von der nahen Spree her die nasskalten Nebelschwaden durch die Straßen zogen. Die Angst, zu spät zu kommen, und der harte preußische Stil nahmen ihm jede Freude am Leben. Beim Einbiegen in die Klosterstraße hörte er das helle, blecherne Gebimmel der Schulglocke. Er war nie ein guter Läufer gewesen und wog auch zu viel, jetzt musste er das Letzte aus seinem Körper herausholen. Atemlos kam er oben an, eine halbe Minute zu spät. Der Lehrer Gänsicke begrüßte ihn wortlos mit einem Blick, der seine ganze Missbilligung zum Ausdruck brachte, griff nach seiner Liste und machte hinter dem Namen Borsig ein Kreuz. Das dritte schon. Beim sechsten flog man von der Gewerbeschule. Als ersten Zögling hatte es gestern den Mechaniker Buttgereit aus Königsberg erwischt.
In der ersten Stunde hatten sie Chemie, und Gänsicke zögerte keinen Augenblick, sich die Zuspätkommer vorzuknöpfen.
»Borsig, sagen Sie uns doch einmal, was Sie über die Theorie der Oxidation wissen, wie sie von de Lavoisier aufgestellt worden ist.«
»Ja, also …« Nichts wusste er von ihr, denn als sie gestern davon gesprochen hatten, war er mit seinen Gedanken dabei gewesen, eine riesige Kuppel für Schinkels neues Museum zu entwerfen.
Alles, was reine Wissenschaft war, und insbesondere die Chemie verabscheute er. Er wollte etwas mit seinen Händen schaffen, egal nun, ob es Holz, Stein oder Eisen war. Was nützte es ihm da zu sehen, wie sich Flüssigkeiten in Gläsern rot oder blau zu färben begannen, wie Gasblasen langsam in kleinen Perlen nach oben stiegen oder wie Stücke von Eisen oder Zink von einer Säure langsam zerfressen wurden?
Als er Beuth zufällig in der Mittagspause allein an seinem Klassenzimmer vorübergehen sah, ging er spontan auf ihn zu und bat ihn, kurz unter vier Augen mit ihm sprechen zu dürfen.
»Gut, Borsig, kommen Sie mit in mein Bureau!«
Dort angekommen, erleichterte August Borsig sein Herz. »Mir ist alles so fremd, und ich will nicht mehr zur Schule gehen – zur dritten schon in meinem Leben! Pardon, aber was ich hier bei Ihnen lerne, das erscheint mir für meine Zukunft unwichtig zu sein, es gibt mir nichts, es bedeutet mir nichts. Ich muss etwas mit meinen eigenen Händen tun, einen greifbaren Stoff vor mir haben, etwas gestalten.«
Beuth hatte ihm aufmerksam zugehört. »Ich kann sie schon verstehen, ganz nach Goethes Faust: Grau, teurer Freund, ist alle Theorie/Und grün des Lebens goldner Baum. Schön und gut, aber wollen wir fortschreiten in unserem Gewerbe und unserer Industrie, dann müssen wir wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält – und das geht nur mit viel Wissenschaft, also Formeln, Gleichungen et cetera. Und erst recht gilt das, wenn wir Neues schaffen wollen.«
»Ich kann das auch ohne diesen ganzen Firlefanz!«, rief Borsig.
Beuth lächelte. »Sie wollen mich provozieren, Borsig, dass ich Sie verärgert und empört mit einem Federstrich von meiner Anstalt verweise. Aber das tue ich nicht, denn ich halte Sie für den besten Zögling, den wir bislang hatten. In Ihnen steckt etwas, steckt sehr viel, das sagt mir meine Menschenkenntnis, aber das kann sich nur entfalten, wenn Sie noch dazulernen, fremde Gedanken in sich aufnehmen und nicht nur Dampfmaschinen bauen können, sondern auch wissen, welche Gesetze der Physik und der Chemie sie funktionieren lassen. Darum bitte ich Sie: Bleiben Sie noch bei uns!«
Das schmeichelte Borsig, und er sagte zu, sich nun immer strebend zu bemühen und die beiden Jahre an Beuths Gewerbeschule durchzuhalten.
Um sich von all seinen Problemen abzulenken, folgte er am Abend des 23. November einer Einladung Wilhelm Järscherskys, mit ihm zum Kupfergraben zu kommen.
»Da wird erstens Schinkels neue Schlossbrücke eingeweiht, und zweitens gibt es die Hochzeit des Kronprinzen. Vor dem Zeughaus hat man eine Säulenhalle für dreihundert Ehrenjungfrauen errichtet. Mensch, die muss ich sehen! Vielleicht ist auch eine für mich dabei.«
So zogen sie los. Die Hochzeit des Kronprinzen mit der katholischen Prinzessin Elisabeth aus Bayern interessierte Borsig wenig, aber über die neue Brücke wollte er schon schreiten – allein ihres kunstvollen Geländers wegen. Als sie ankamen, war die Brücke aber noch gesperrt. Bei der abendlichen Illumination brachte jemand das Gerücht auf, niemand dürfe heute über die Brücke gehen. Viele wurden nun von der Angst gepackt, nicht mehr rechtzeitig auf die andere Seite der Spree zu kommen und das große Schauspiel der Eheschließung zu verpassen.
»Komm!«, rief Järschersky. »Am Kupfergraben