Der König vom Feuerland. Horst Bosetzky

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Der König vom Feuerland - Horst Bosetzky

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den ersten Schuss. Seine Kugel verfehlte die Brust von Schwanows.

      Der aber traf.

      Borsig sprang auf und lief in Richtung Straße. Järschersky folgte ihm. Als sie wieder in der Münzstraße waren und frühstücken wollten, kam ihnen die Witwe Järschersky schon im Hausflur entgegen, völlig aufgelöst.

      »Bei uns is eingebrochen worden!«, rief sie ihnen zu.

      Järschersky sah Borsig vorwurfsvoll an. »Das kommt davon, wenn man Berlin langweilig findet!«

      Bei Borsig hatten sie nur ein paar Münzen mitgehen lassen, so dass ihn dieser Zwischenfall nicht besonders aufregte. Wilhelm Järschersky hingegen fehlte einiges an Geld, Gebrauchsgegenständen und Kleidungsstücken. Dieser Verlust führte dazu, dass er den ganzen Tag über schlechte Laune hatte und am Abend unbedingt um die Häuser ziehen wollte, um bei Bier und Schnaps sein Elend zu vergessen. Borsig schloss sich ihm ohne Zögern an, denn auch er fühlte sich schlecht. Sein Heimweh führte dazu, dass er Schlesisch sprach.

       Wenns dann wird zum Saufa kumma, Do warn irscht die Bäuche brumma! Wein, dann warn ber wie Wosser scheppa, Saufa aus dan guldna Teppa. ’s Duppelbier werd niemals sauer, Denn dirt sein de besta Brauer.

      Es ging feuchtfröhlich zu, und gegen Mitternacht hatte Borsig alle Weinkeller und Kneipen kennengelernt. Plötzlich war Järschersky verschwunden. Panik erfasste Borsig, denn es war stockfinster – wie sollte er nun in der fremden Stadt allein nach Hause finden? Eine Straßenbeleuchtung gab es nicht, nur an wenigen Häusern hingen Laternen. Das Pflaster war grob, und in den Rinnsteinen flossen die Fäkalien Richtung Spree. Um in die Häuser zu gelangen, musste man über ausgelegte Bretter laufen. Er stürzte, rappelte sich wieder auf, taumelte erneut und schaffte es, ein paar Schritte zu gehen, indem er sich an einer Hauswand festhielt. Zum ersten Mal in seinem Leben war er richtig betrunken. »Der Borsig, der Borsig«, grölte er, »der hat das ganze Leben noch vor sich.« Dann schlug er lang hin. Das Letzte, was er wahrnahm, war die Singuhr der Parochialkirche mit ihren 37 Glocken.

      Als er wieder zu sich kam, lag er auf einer langen hölzernen Bank. Im ersten Augenblick dachte er, er würde sich in Beuths neuer Gewerbeschule befinden. Doch da wurde ein Betrunkener in den Raum geführt, der schrie, man möge ihn freilassen, da er sonst seinen Dienst verlieren würde. Ein Junge fiel im Schlaf auf die Erde und schrie fürchterlich. Ein elegant gekleideter junger Mann hielt seinen Pass in die Höhe und erklärte in gebrochenem Deutsch, er sei Engländer und niemand dürfe einen Untertanen Seiner Majestät festhalten.

      »Na, nu jehm Se endlich Ruhe, Sie! Die andern wolln ooch schlafen.« In der Tür stand ein Aufseher, ein altgedienter Soldat, und rauchte ruhig seine Pfeife.

      »Wo bin ich hier?«, fragte Borsig.

      »In der Stadtvogtei, mein Guter.«

      Am nächsten Morgen flog die Tür auf, und ein Constabler kam, um Borsig zum Verhör zu holen. Der erzählte seine Geschichte, und man entließ ihn mit der Warnung, Herrn Beuth, dem Staatsrath und Director der Technischen Deputation für Handel und Gewerbe, von seinem wüsten Treiben Mitteilung zu machen, wenn er noch einmal aufgegriffen und zum Molkenmarkt No. 2 gebracht würde.

      Beuths Technische Schule war im Hause Klosterstraße 36 untergebracht, einem alten zweistöckigen Bau mit einer monotonen Fassade, und bestand im Grunde genommen nur aus zwei nicht eben großen Klassenräumen. Beuths Ziel war nicht eine Anstalt, in der die Massen ausgebildet wurden, sondern er setzte auf Qualität und wollte nur die Besten hier versammelt sehen. So hatte er dieses neue Lehrinstitut vor zwei Jahren mit nur dreizehn Schülern und vier Lehrern eröffnet und bestimmt, dass nie mehr als dreißig Schüler zugleich unterrichtet werden sollten.

      Wer Beuth zum ersten Mal sah, hätte ihn für einen Dichter oder Komponisten halten können, beim Formulieren des Konzeptes aber hatte der Offizier in ihm Oberhand gewonnen, und so las sich die Präambel über Wesen und Aufgabe seines Institutes wie ein Befehl an seine Schwadron:

       Der Unterricht wird kostenfrei erteilt. Die Disziplin ist streng. Nachlässige Schüler und solche, die dem Unterricht nicht folgen können, werden in den ersten Monaten entlassen, damit sie die Lehrer nicht ermüden und andern kein schlechtes Beispiel geben. Über denselben wissenschaftlichen Gegenstand wird in zwei aufeinanderfolgenden Stunden gelehrt. In der einen werden die Schüler über das in der vorigen Stunde Gelernte geprüft. In der anderen wird mit dem Unterricht fortgefahren. Geübte Schüler sollen Vorschüler (Repetitoren unter Aufsicht des Lehrers) sein.

      Der Schüler August Borsig, nunmehr neunzehn Jahre alt, saß mit nicht ganz zwei Dutzend Gefährten in einem Klassenzimmer, das nüchtern und sachlich war und voll preußischen Geistes. Das Bild des Königs hing an der Wand, und Friedrich Wilhelm III. blickte streng auf seine jungen Untertanen – alles begabte Handwerker. Sie kamen aus allen seinen Provinzen, Berliner gab es nur wenige. Borsig konnte sich über seine Gefühle nicht ganz klarwerden. Einerseits war er stolz darauf, dass er Schlesien in diesem illustren Kreis vertreten durfte, andererseits litt er darunter, schon wieder die Schulbank drücken zu müssen. Viel lieber hätte er draußen seine Kräfte erprobt und geholfen, etwas Bleibendes zu schaffen.

      Ein Lehrer trat ein, und Borsig fand, dass der Mann jämmerlich aussah – fast sehnte er sich nach Mistek, der wenigstens von der Statur her überzeugend gewirkt hatte. Ohne sich vorzustellen, die jungen Herren willkommen zu heißen und ihnen eine erfolgreiche Zeit an dieser Schule zu wünschen, betrat der Mann das Podium, klopfte mit dem Bleistift auf die Tischplatte und musterte die Anwesenden mit einem scharfen Blick. Dann nahm er ein eng beschriebenes Blatt aus einem blauen Aktendeckel und hielt mit schnarrender Stimme eine kleine Rede.

      »Ich verlese die Satzungen, das Gesetz unserer Schule. Ohne Gesetz kein Staat, keine Schule, keine Ordnung. Wir Preußen wissen, was wir dem Gesetz schulden. Der Herr Oberfinanzrath Beuth hat unser Gesetz eigenhändig entworfen.« Er setzte die Brille auf und begann, mit der Stimme eines Dompredigers zu lesen:

       Für die Zöglinge des Königlichen Gewerbe-Instituts.

       Es ist die Pflicht der Zöglinge des Königlichen Gewerbe-Instituts, sich der Wohltat wert zu zeigen, welche der Staat ihnen durch Aufnahme angedeihen lässt. Diese Anstalt ist nur für sehr fähige, fleißige, ordentliche und moralische Menschen bestimmt; andere werden daraus entfernt. Ihr anzugehören soll eine Auszeichnung sein. Wahrer Gewerbefleiß ist nicht ohne Tugend denkbar. Das Gewerbe-Institut kennt keine andre Strafe, als Entfernung aus der Anstalt.

       Diese erfolgt zu jeder Zeit und ohne weiteres:

       1. Wenn die Fortschritte eines Zöglings nicht hinreichend sind, um den folgenden Unterricht zu verstehen, oder zu gering für eine Versetzung in die obere Klasse;

       2. wenn der Zögling sich nicht der größten Sittlichkeit und des größten Anstandes befleißigt;

       3. wenn der Zögling den Unterricht unter dem Vorwande von Krankheit oder ohne vorgängige Einwilligung der Herren Lehrer versäumt;

       4. wenn der Zögling, welcher verpflichtet ist, sich eine Viertelstunde vor dem Anfange des Unterrichts im Gewerbehause einzufinden, im Laufe eines Lehrgangs sechsmal zu spät gekommen ist, d. h. nachdem die Stunde geschlagen hat.

      »Aber Sträflingskleidung bekommen wir keine?«, murmelte der Zögling, der neben Borsig platziert worden war und auf dessen Namensschild Schäschke stand.

      Der Lehrer setzte seine Brille ab und musterte die Versammelten mit dem scharfen Blick eines Criminal-Commissarius, der auf der Suche nach einem Schwerverbrecher

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