Phalansterium. Matthias Falke
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Was für eine Lust es war, barfuss über die Erde zu gehen, die dort, wo sie in der Sonne lag, schon körperwarm war, während sie einen Schritt daneben, im Schatten eines Busches oder eines Felsens, steinhart gefroren und von den Runen des Reifs bedeckt war.
Jennifer saß wenige Parzellen weiter in einem der Felder, die vor wenigen Tagen mit primitiven Pflügen umgebrochen worden waren, und meditierte. Sie hatte den Lotossitz eingenommen. Ihre Hände ruhten auf ihren Knien. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Gesicht war blicklos in imaginäre Fernen gerichtet. Sie trug das mattgraue Unterzeug. Ein weiblicher Buddha. Ihr Schweigen war voller Leben und Kraft. Ich konnte spüren, wie ihre Energie das Tal erfüllte und die ganze Landschaft mit geistiger Präsenz auflud.
Die Kinder des kleinen Dorfes hatten einen Kreis um sie gebildet. Sie wahrten ehrfürchtig einen Abstand von mehreren Schritten und sahen ihr zu, die sie nicht wahrzunehmen schien. Jungen und Mädchen waren nicht zu unterscheiden. Beide trugen sie nur schmutzstarrende zerrissene Kleidchen. Die Haare standen als verfilzte Skulpturen um ihre Köpfe. Sie waren mehr nackt als bekleidet und durchweg unterernährt. Manche hatten selbstgebastelte Spielsachen und Kuscheltiere auf dem Arm. Die etwas größeren, die fünf oder sechs Jahre alt sein mochten, schleppten ihre kleineren Geschwister auf dem Rücken.
Ich blieb in einiger Entfernung stehen und sah mir die Szene an. Sie tuschelten und kicherten. Als sie mich sahen, schien sie das nicht zu verunsichern, sondern im Gegenteil noch anzustacheln. Endlich wagte sich eines der größeren Mädchen vor, das die Anführerin des kleinen Trupps zu sein schien. Mit einem Satz überwand sie den selbstgesetzten Kreis und stupfte Jennifer kurz an. Unter dem Gekreisch der anderen zog sie sich wieder auf den Sicherheitsabstand zurück.
Nichts geschah.
Ein zweites Mal sprang sie vor und zupfte die regungslos Meditierende am Haar.
Nichts.
Nach und nach trauten sich auch die anderen, bis Jennifer von der Horde aufgeregt johlender Dreckspatzen umringt war.
Plötzlich packte sie eines der Mädchen und riss es an sich. Blitzschnell aufspringend, versuchte sie die anderen zu schnappen, die auseinander stoben wie ein Rudel Murmeltiere, aus deren Mitte der Adler ein Junges gerissen hatte. Jennifer war schneller als sie alle. Nur ihre Arme waren irgendwann zu kurz. Sie konnte nicht zehn oder zwölf Kinder zugleich an sich pressen, auch wenn es so aussah, als ob sie am liebsten die ganze Schar auf einmal an ihre Brust gezogen hätte.
Die Kleinen kreischten in einer Mischung aus Panik und Verzückung.
Jennifer gab sie wieder frei, wobei sie einige Worte zu ihnen sagte. Sie verstand ein wenig den hiesigen Dialekt.
Ich ging zu ihr, die schwer atmend in der zerwühlten Erde stand, während die Kinder laut plappernd zu den Hütten liefen, wo sie nun den Rest des Tages etwas zu erzählen hatten.
»Dass die Welt uns dabei stört, uns in ihr Nichtsein zu versenken!«
Sie sah mich verständnislos an.
»Geht es nicht darum? Die Nichtigkeit aller Dinge.«
Jennifer sah noch immer den Kindern nach, die barfuss über die Mäuerchen klimmend den Häusern zustrebten.
»Nie würde ich behaupten, dass diese Kinder nicht existieren«, sagte sie leise. Sie war nicht bei der Sache. Ich hörte an ihrer Stimme, dass sie keine Lust auf tiefschürfende Diskussionen hatte. Dabei war es auch nur als hingeworfene Bemerkung gemeint gewesen.
»Nicht?«
»Nein.« Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »In allerletzter Hinsicht. Aber dann sind auch diese Berge nicht und ist diese Sonne nicht und ist vielleicht der ganze Kosmos nicht, denn alles wird vergehen und nichts wird davon bleiben. Aber jetzt ist alles da.« Sie zwinkerte mir zu. »Und es ist immer jetzt!«
»Ich weiß schon, warum ich nie über die Anfangsgründe hinaus gekommen bin.«
»Alles ist«, sagte sie verträumt. »Alles lebt. Alles atmet. Sieh es dir an!«
Ich legte den Arm um sie. Nebeneinander standen wir da und sahen über das Tal hinweg zu den Bergen, die es begrenzten. Darüber der stahlblaue Himmel. Alles war vollkommen.
Der Dorfälteste wurde oben am Mäuerchen sichtbar. Die Kinder scharten sich um ihn, als wären es alle seine eigenen. Vielleicht waren sie das sogar. Er gestikulierte, mehr drohend als winkend, und blökte etwas, das wir nicht verstanden.
»Oh, oh«, grinste Jennifer.
Wir kletterten nach oben, wobei wir uns die allergrößte Mühe machten, nicht ein Steinchen aus den Trockenmauern zu brechen.
Jennifer beschrieb den traditionellen Gruß, den ich unbeholfen nachvollzog. Wir blieben einige Schritte unterhalb des Alten stehen, was ihm den Triumph gab, auf uns herabblicken zu können. Er spuckte seine Worte eher aus, als dass er sie artikuliert hätte. Selbst wenn ich des Dialektes mächtig gewesen wäre, hätte ich ihn kaum verstanden. Er hatte weniger Zähne im Mund als Finger an einer Hand.
Jennifer radebrechte und dolmetschte.
»Er sagt, wir sollen die Kinder in Ruhe lassen«, erklärte sie nach einem Wortwechsel, der sich anhörte, als rührte man mit einem Stock in nassem Kies herum. »Und wir sollen auch das Dorf verlassen. Sie wollen uns hier nicht.«
Ich nickte. Da sie die Konversation führte, konnte ich mich ganz auf deren nonverbalen Anteil konzentrieren. Mir fiel auf, dass der Alte immer wieder über uns hinweg sah und einen bestimmten Punkt auf der gegenüberliegenden Talseite fixierte. Ich versuchte seinem Blick zu folgen, konnte jedoch nichts ausmachen. Seine gehetzte Miene und die unduldsame Sprechweise verrieten, dass er vor etwas Angst hatte.
»Sag ihm, wir sind in einer Stunde weg«, meinte ich zu Jennifer.
Sie schien schon etwas in der Art vorgebracht zu haben. Der Alte brauste auf. Vermutlich war ihm diese Frist zu lang. Aber wir wollten uns auch nicht von ihm ins Bockshorn jagen lassen. Jennifer richtete noch zwei, drei Worte in unmissverständlichem Ton an ihn. Dann trollte er sich, Unverständliches in sich hineinmümmelnd, das selbst für einen Muttersprachler keine Bewandtnis mehr haben würde.
Wir kehrten zu unserem Platz auf den Terrassen zurück.
»Wie geht es dir?«, fragte Jennifer. »Du hast geschlafen wie ein Stein!«
»Ich fühle mich ausgesprochen seiend heute«, ulkte ich. »Ich glaube, ich habe seit mindestens dreißig Jahren nicht so gut geschlafen.«
»Das ist gut.« Sie lächelte mich an und musterte mich wohlwollend, als sei ich der Patient und sie meine Betreuerin.
»Und wie geht es dir?«
»Gut.« Die Antwort kam rasch und knapp. Es war noch nicht das »gut«,