Phalansterium. Matthias Falke

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Phalansterium - Matthias Falke

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Bergfluchten, Eismassen türmten sich viele Kilometer hoch vor uns auf und reichten von Westen nach Osten einmal quer über den Horizont. Die Kette zog sich einmal rund um den Planeten herum, aber was vor uns stand, war der zentrale Teil in einer Breite von zweihundert Kilometern.

      »Hier wuchs ein Gebirge aus der Erde«, sagte Jennifer.

      Ich nickte. Wussten wir noch, was das war? Wir hatten Planeten, Sonnen, ganze Galaxien aus dem Raum gesehen, aber wann zuletzt ein Gebirge so wahrgenommen?

      »Gewaltig.«

      Der Wind frischte auf. Wir fröstelten, obwohl die Sonne rasch höher stieg. Aber wir konnten uns nicht von dem mächtigen Anblick losreißen.

      »Hast du keinen Hunger?«, fragte Jennifer irgendwann.

      »Und wie!«

      »Dann lass uns runter gehen!«

      Aber wir standen immer noch da und schauten und schauten.

      Sowie die Sonne sich durch die Morgennebel gekämpft hatte, begannen sich Wolken um die höchsten Gipfel zu bilden, und schnell entzogen sie sich unseren Blicken. Das machte uns den Abschied leichter. Wir kletterten ins Treppenhaus zurück und gingen frühstücken.

      »Wie hast du geschlafen?« Jennifer schlürfte den dünnen Kaffee, den Ran Darjen gekocht hatte, und bestrich eines der omelette-artigen Fladenbrote mit gelber Butter.

      »Wie ein Bär. Und du?«

      »So gut wie lange nicht mehr!«

      Sie zwinkerte mir gutgelaunt zu. Dann biss sie in den Teigfladen, dass die dicke geschmolzene Butter über ihr Handgelenk lief.

      »Hoppla!«

      Sie leckte sich die Finger.

      »Hier kann man es aushalten, was?« Ich probierte den heimischen Tee, der in einem ganz ordentlichen Ruf stand und der auch wirklich genießbar war.

      Wir waren auch jetzt die einzigen Gäste in der kleinen Stube. Zwar hatten auch andere Leute in Rans Rasthaus übernachtet, einheimische Pilger hauptsächlich. Aber sie waren längst unterwegs, da sie vor dem Morgengrauen aufbrachen und traditionell das Frühstück verschmähten.

      Ich sah mich in dem Raum mit seiner niedrigen Balkendecke und seinen abgewetzten Teppichen um. Alles trug die Zeichen des höchsten Alters. Wie lange mochte diese Welt von Menschen besiedelt sein? Das Doppelsystem von Sin Pur und Musan war von der ersten Welle von Sprungschiffen kolonisiert worden. Seitdem waren hier einige Jahrhunderte vergangen.

      Zur seltsamen Tragik der Goldenen Generation um Rogers und Laertes gehörte es ja, dass die erste MARQUIS DE LAPLACE sich immer noch bei Unterlichtgeschwindigkeit von ihrem Jungfernflug zurückkämpfte, während längst bessere Aggregate entwickelt worden waren, die ein Vielfaches der Reichweite hatten. Laertes war einer der letzten lebenden Veteranen jener Pioniertat. Die alte MARQUIS DE LAPLACE war das erste und einzige Schiff, das je mit Unterlichtantrieb zu einem anderen Stern aufgebrochen war. Immer wenn es wieder zurück kam, war es trotz der Updates ein Oldtimer, der der neuen Generation von Prospektoren und Admiralen vorsintflutlich erschien. Mit der Verbesserung der Sprungtechnik verringerte sich auch der Dilatationseffekt. Trotzdem umspannte Laertes’ Leben ein halbes Jahrtausend irdischer Zeit, und er war nach jeder Reise von der Entwicklung überrollt worden. Er und Rogers waren lebende Fossilien aus einem unbegreiflich fernen Äon. Und so entstand das Paradox, dass wir die Helden des interstellaren Aufbruchs noch persönlich kannten, die jetzt in ihren Siebzigern standen, während wir auf Welten wandelten, die vor drei oder vier Jahrhunderten von der menschlichen Rasse in Besitz genommen worden waren.

      Nach dem Frühstück unternahmen wir einen kleinen Gang durch das Dorf, wenn man die lockere Zusammenballung einer Handvoll halbverfallener Gehöfte so nennen wollte. Es war ein Weiler, der nur deshalb zu einer gewissen Bedeutung gekommen war, weil er einen der Ausgangspunkte der klassischen Pilgerrouten darstellte. Hier heuerten die Pilger Führer, Träger oder Lasttiere an. Hier versorgten sie sich mit Lebensmitteln und festem Schuhwerk. Es gab eine Art Hauptplatz, eine natürliche Halle unter einem breitschattenden Bodhibaum, wo ein paar Männer herumlungerten und ihre Dienste anboten. Es gab auch einen Verkaufstand, wo die Pilger und die Einheimischen sich mit Obst, Gemüse, Reis und Gerstenmehl versorgen konnten. Wir verschafften uns einen Überblick über das Angebot an Waren und Dienstleistungen, kamen aber noch nicht zu einem Abschluss. Wir mussten uns erst darüber klar werden, was wir nun hier anfangen wollten. Das eine aber wussten wir: Wir wollten allein bleiben. Den ortskundigen Guides, die sich uns unterwürfig präsentierten, mussten wir daher eine Absage nach der anderen verpassen, obwohl sie uns in den schaurigsten Tönen die immergleiche Mär von den versprengten Laya-Soldaten erzählten, die angeblich noch das Hinterland unsicher machten. Nachdem wir zum zehnten Mal auf unsere Offizierspistolen gedeutet hatten, änderten sie ihre Strategie und berichteten mit aufgerissenen Augen und verzerrten Mündern von wilden Tieren, giftigen Pflanzen, Lawinen, Erdrutschen und anderen Gefahren, die das Gebirge für uns bereithalte. Irgendwann wurde es uns zu dumm. Wir kehrten zu unserer Unterkunft zurück.

      Wir blieben mehrere Tage in dem beschaulichen Weiler. Allmählich begannen wir uns in der bescheidenen, aber liebenswürdigen Pension einzuleben. Wir mussten unsere Körper an diese Welt akklimatisieren. Die Schwerkraft war geringer, die Luft wesentlich dünner als der Standard, den wir gewohnt waren. Und auch unsere Seelen bedurften einiger Zeit der Anpassung. Wie es war, in einem Bett zu schlafen! Unter normalen atmosphärischen Bedingungen zu leben. Keine Entscheidungen treffen zu müssen und nicht permanent in Lebensgefahr zu sein! Mit Beginn der zweiten Woche stellte ich eine tiefe Entspannung bei mir fest.

      Auch mit Jennifer ging eine Wandlung vor. Sie wurde ruhiger. Sie konnte eine Viertelstunde lang da sitzen, ohne mit dem Fuß zu wippen und Pläne zu schmieden, einfach nur so.

      »Was denkst du?«, fragte ich dann manchmal

      »Es ist seltsam«, sagte sie, ohne mich anzusehen, »aber ich will mit dir zusammen sein.«

      »Ich bin da.«

      »Wir waren so lange getrennt.«

      »Spielst du auf alte Geschichten an?«

      »Nicht, was du meinst. Ich habe einfach nur Sehnsucht nach dir.«

      »Ich bin da«, wiederholte ich.

      »Lass uns nach vorne schauen, lass uns den Augenblick leben, lass uns diese paar Jahre genießen, die uns vielleicht noch bleiben.«

      »So kenne ich dich gar nicht.«

      »Du weißt, worum es geht.«

      »Ich weiß es.«

      »Es ist keine Sache der Zeit, nichts von Tagen oder Wochen oder Monaten.«

      »Du hast alle Zeit der Welt.«

      »Kommst du mit mir?«

      »Wohin du willst. Aber ich glaube, ich weiß schon, wohin es dich zieht.«

      »Ich würde gerne eine Pilgerfahrt unternehmen.«

      »Du hast die Warnungen gehört!«

      »Es ist eine ganze Welt, und ich kenne die Seitentäler und Klöster.«

      »Wie du meinst. Du willst nach Loma Ntang?«

      »Auch.

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